

Haftungsfolgen wegen verspäteter Aufklärung
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Gutachtliche Entscheidungen
ihm die erhobenen Befunde auf dem am Untersuchungs-
tisch angebrachten Bildschirmmonitor vorgeführt wurden.
Die behandelnden Ärzte boten unmittelbar darauf dem Pa-
tienten an, die hochgradige Einengung im vorderen abstei-
genden Ast der linken Herzkranzarterie sogleich unter
Verwendung eines Ballondilatationskatheters zu behandeln
mit dem Ziel, die Gefäßeinengung zu beseitigen.
Dem Untersuchungsprotokoll vom 28. März und einer spä-
teren ergänzenden ärztlichen Stellungnahme ist zu entneh-
men, dass der Patient der sofortigen Durchführung der an-
gebotenen Behandlung zugestimmt habe, nachdem er
mündlich über die Risiken, einschließlich der Möglichkeit
eines Herzinfarktes, aufgeklärt worden sei. Der Inhalt der
Aufklärung ist nicht dokumentiert.
Dilatationsbehandlung mit Herzkathetertechnik
Unmittelbar nach der mündlichen Einwilligungserklärung
des Patienten wurde mit den vorgeschlagenen Behandlungs-
maßnahmen begonnen. Aus den Krankenunterlagen folgt,
dass die Einführung eines Führungsdrahtes in das Ostium
der linken Kranzarterie sowie weiter in die Stenose im lin-
ken absteigenden Ast der Arterie auf anatomisch bedingte
Schwierigkeiten stieß.NachAustausch des Führungsdrahtes
wurde ein erneuter Sondierungsversuch unternommen.
Danach trat ein heftiges und schmerzhaftes Engegefühl in
der Brust auf; im EKG zeigten sich ST-Streckenhebungen.
Die Symptome wiesen auf eine akute Durchblutungsstö-
rung in der Vorderwand der linken Herzkammer hin. Eine er-
neute Kontrastmittelinjektion in die linke Herzkranzarterie
ergab eine ausgedehnte Dissektion im Bereich des links-
koronaren Hauptstamms mit Beteiligung der Aortenwurzel-
wand und Ausbildung eines Kontrastmitteldepots in diesem
Bereich. Es floss kein Kontrastmittel mehr in den vorderen
absteigenden Ast der linken Herzkranzarterie und in den
proximalen Ramus circumflexus der linken Arterie ab.
Es wurde sofort eine Infusion mit gerinnungshemmenden
Medikamenten begonnen und fortgeführt. Außerdem wur-
de über einen venösen Zugang eine temporäre Herzschritt-
macherelektrode in die Spitze der rechten Herzkammer
vorgeführt, da sich eine Bradykardie und Zeichen eines
kardiogenen Schocks entwickelten. Danach traten jedoch
ventrikuläre Tachykardien auf, so dass der Schrittmacher zu-
rückgezogen werden musste. Zudem erfolgten die Intubation
des linksseitig pneumektomierten Patienten und eine kon-
trollierte Beatmung der rechten Lunge.
Auch nach einer Dilatation imHauptstamm der linken Herz-
kranzarterie zeigte sich keine Flussverbesserung. Wegen
rezidivierenden Kammerflimmerns musste mehrfach mit
steigenden Energieabgaben elektrodefibrilliert werden. Zu-
sätzlich wurden Lidocain und Cordarex appliziert. Nach ei-
nem erneuten Wechsel des Führungskatheters und Vorfüh-
rung eines Führungsdrahtes in den Bereich der Dissektion
des linkskoronaren Hauptstamms erfolgte dort die Implanta-
tion einer Koronargefäßstütze. Eine weitere Kontrastmittel-
injektion zeigte zwar eine Durchströmung der linken Herz-
kranzarterie, aber keinen Abfluss im Bereich des Ramus
circumflexus und des peripheren absteigenden Astes der
Arterie bei fortschreitendem Pumpversagen der linken Herz-
kammer. Die zusätzlich nach Eintritt der Dissektion durch-
geführten Reanimationsmaßnahmen blieben ohne Erfolg,
so dass der Patient in tabula am Herzversagen verstarb.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission nahm wie folgt Stellung:
1. Indikation, Aufklärung und Durchführung der Herzka-
theteruntersuchung am 28. März boten keinen Anlass zu ir-
gendwelchen Beanstandungen. Die sachgerechte Maßnah-
me entsprach dem medizinischen Standard.
2. Die Indikation zur Durchführung der vorgeschlagenen
Herzkatheterinterventionsbehandlung der nachgewiesenen
Engstelle in dem vorderen absteigenden Ast der linken
Herzkranzarterie war ebenfalls sachgerecht gegeben. Aller-
dings bestand keine dringliche notfallmäßige Indikation zur
sofortigen Durchführung dieser Maßnahme.
3.Die Intervention wurde fachgerecht begonnen und durch-
geführt. Die alsbald aufgetretene Dissektion im Haupt-
stamm der linken Herzkranzarterie ist eine auch bei fehler-
freiem Vorgehen im Einzelfall nicht sicher vermeidbare
behandlungstypische Komplikation, auf die deshalb bei
sachgerechter Aufklärung ausdrücklich hinzuweisen ist.
Der Eintritt dieser Komplikation ist daher nicht als Behand-
lungsfehler zu werten.
4. Alle Maßnahmen, die der notfallmäßigen Behandlung
der Koronarwanddissektion dienten, hat die Kommission als
situationsangemessen und sachgerecht bewertet.Angesichts
der Art und Schwere der Komplikation hätte mit weit über-
wiegender Wahrscheinlichkeit der Eintritt des Todes auch
dann nicht verhindert werden können, wenn der Patient so-
fort in einen herzchirurgischen Operationssaal zur Durch-
führung einer notfallmäßigen Herzoperation verlegt wor-
den wäre.
5. Entscheidend für die Beurteilung des Falles ist jedoch die
Feststellung, dass der Patient mangels zeitgerechter Aufklä-
rung nicht rechtswirksam in den – damit rechtswidrigen –
Eingriff eingewilligt hat. Fehlerhaft war es, das Einverständ-
nis des Patienten unmittelbar nach Feststellung des behand-
lungsbedürftigen Befundes einzuholen. Dem noch auf dem
Kathetertisch liegenden Patienten wurde nicht ermöglicht,
in Ruhe und unter zumutbaren Umständen über seine Zu-
stimmung zu entscheiden. Er hatte keine Gelegenheit, die
Risiken zu überdenken und abzuwägen. Er sah sich viel-
mehr der offensichtlichen Erwartung der Ärzte ausgesetzt,
er werde dem Eingriff zustimmen.
Die Rechtsprechung
(vgl. BGH NJW1996, 777)
hat in solchen
Fällen eine rechtzeitige Aufklärung verneint und damit die
mündliche Einwilligung des Patienten für unwirksam er-
klärt. Die Gutachterkommission ist dieser Auffassung ge-
folgt.
Hypothetische Einwilligung?
Die Kommission hat auch die Frage einer etwaigen hypothe-
tischen Einwilligung erörtert, d. h. der Patient hätte bei zeit-
gerechter ordnungsmäßiger Aufklärung in die Behandlung
eingewilligt. Der strengen Anforderungen unterliegende