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Gutachtliche Entscheidungen
Die Gutachterkommission hat sich wiederholt mit der unzu-
reichenden Diagnostik zur Feststellung eines Akustikusneur-
inoms, einem Tumor im Kleinhirnbrückenwinkel, beschäf-
tigen müssen. Die auftretenden Symptome, Hörminderung
mit Ohrgeräuschen, legen vielfach zunächst die Annahme
eines sogenannten Hörsturzes nahe, der häufig vorkommt.
Die unter den abschwellenden Maßnahmen einer Hörsturz-
behandlung vorübergehende Besserung des Symptombildes
darf die differenzialdiagnostisch gebotene weitere Abklä-
rung durch eine Prüfung der Vestibularorgane und eine
MRT-Untersuchung nicht vernachlässigen.
Allein schon eine Ableitung der akustisch evozierten Poten-
tiale – kurz BERA genannt – kann das Vorliegen eines
Akustikusneurinoms mit über 90-prozentiger Sicherheit er-
kennen lassen. Der Ausfall des Vestibularapparates wird oft
von Patienten nicht empfunden, da er wegen des außeror-
dentlich langsamen Wachstums des Tumors über viele Jah-
re schleichend eintritt und kompensiert wird und somit
nicht das typische Symptombild (Gleichgewichtsstörung)
wie bei einem akuten Ausfall hervorruft. In der Regel geht
nämlich der Tumor vom vestibulären Anteil des VIII. Hirn-
nerven, des N. Stato-acusticus, und nicht vom Akustikus-
nerven aus. Letzterer ist zumeist nur sekundär und darum
auch viel später betroffen.
Der Zeitpunkt der Feststellung des Tumors kann von Be-
deutung für seine operative Behandlung sein, da diese von
der Größe der Geschwulst abhängt. Bei kleineren Tumoren
besteht statt einer Hirnoperation mit dem suboccipitalen
oder transtemporalen (durch das Schläfenbein) Zugangsweg
die Möglichkeit eines Eingriffs durch das Ohr (transmasto-
idal).Alternativ bietet sich auch die Möglichkeit einer Strah-
lentherapie, die so genannte „Gamma knife“-Methode an,
die in zunehmendem Maße Anwendung findet.
Beispielhaft werden zwei Sachverhalte dargestellt, in denen
Diagnosemängel zur verspäteten Erkennung und Behand-
lung des Tumors führten.
Erster Sachverhalt
Die 34-jährige Patientin suchte Ende Oktober die beschul-
digte niedergelassene HNO-Ärztin auf und gab an, seit zwei
Wochen eine linksseitige Hörrminderung mit gelegentli-
chem Tinnitus festzustellen. Bei klinisch unauffälligem Be-
fund ergab die audiometrische Untersuchung eine linksseiti-
ge Innenohrschwerhörigkeit. Das rechte Ohr hörte normal.
Bei den Gleichgewichtsorganen fand sich kein Spontan-
oder Provokationsnystagmus.
Die Ärztin ging von einem Hörsturz aus und verordnete
Pentoxiphyllin. Da sich nach einer Woche keine Besserung
einstellte, ließ die Ärztin vom 5. bis 21. November eine Infu-
sionsbehandlung durchführen, die eine Besserung der links-
seitigen Schwerhörigkeit zeigte, während die Ohrgeräusche
blieben. Die Ärztin sah von weiteren diagnostischen Maß-
nahmen ab,was sie später selbst als fehlerhaft wertete. In der
Folgezeit behandelte sie, ohne dass eine Besserung eintrat,
mit dem Rheologikum Kollateral forte. Die letzte Verord-
nung erfolgte am 8. März.
Im Dezember suchte die Patientin einen niedergelassenen
Neurologen auf, der eine MRT-Untersuchung (Schichtrönt-
gen) veranlasste, die am 24. Januar durchgeführt wurde.
Diese ergab ein linksseitiges Akutiskusneurinom mit einem
Durchmesser von 2,6 bis 2,9 cm, das intra- und extramental
lag.
Operative Behandlung
Nach Einweisung in eine Neurochirurgische Klinik wurde
das Neurinom am 22.Februar reseziert,wobei der lateral sub-
occipitale Zugangsweg gewählt wurde. Der Nervus vestibulo-
cochlearis und der Nervus facialis konnten vollständig
erhalten werden.
Der nachbehandelnde HNO-Arzt berichtete der Gutachter-
kommission, dass eine am 7. November durchgeführte
audiometrische Untersuchung eine Schallempfindungs-
schwerhörigkeit links mit einem Hörverlust von 60 dB er-
geben habe. Bei der Vestibularisprüfung sei ein Ausfall des
linken peripheren Vestibularsystems festgestellt worden.
Gutachtliche Beurteilung
Die Gutachterkommission beanstandete nicht, dass die be-
schuldigte Ärztin die aufgetretene linksseitige Schwerhörig-
keit mit gleichzeitigem Tinnitus zunächst als Hörsturz auf-
fasste. Eine solche vorläufige Diagnose war bei dieser Sym-
ptomatik naheliegend, zumal unter der veranlassten In-
fusionstherapie Zeichen einer Besserung des Gehörs er-
kennbar waren.
Gleichwohl hätten die bleibenden Symptome differenzial-
diagnostische Überlegungen auslösen müssen. Eine Prü-
fung der Vestibularorgane, die Ableitung der akustisch evo-
zierten Potentiale, die Hirnstammaudiometrie und eine
MRT-Untersuchung wären sachgerecht gewesen. Bei die-
sem standardmäßigen diagnostischen Vorgehen hätte der
Tumor etwa 13 Monate früher erkannt und operativ behan-
delt werden können.
Angesichts des sehr langsamen Wachstums des Tumors ist
eine solche zeitliche Verzögerung erfahrungsgemäß nicht
von erheblichem Nachteil. Der bei der späteren Operation
gewählte Zugang wäre auch bei einem halb so großen Neur-
inom gewählt worden. Ein schonender und weniger belas-
tender Eingriff durch das Ohr hat den Nachteil, dass er
zwangsläufig die Ausschaltung des Hör- und Gleichge-
wichtsnerven zur Folge hat.
Die operative Behandlung in der Neurochirurgischen Klinik
hatte einen so günstigen Verlauf, dass die Kontinuität der
Hör-, Gleichgewichts- und Gesichtsnerven trotz der Größe
des vollständig entfernten Tumors erhalten werden konnte.
Diagnosemängel im HNO-Bereich
Verspätete Erkennung eines Akustikusneurinoms