

112
Gutachtliche Entscheidungen
Nierenzellkarzinome sindmit einemAnteil von 80 bis 90 Pro-
zent die häufigste Tumorerkrankung der Nieren. Sie treten
überwiegend einseitig, in 2 bis 4 Prozent der Fälle zeitgleich
oder zeitversetzt auch beidseitig auf. Das Erkrankungsalter
liegt vorzugsweise im 6. und 7. Lebensjahrzehnt. Männer
sind etwa 2- bis 3-mal so häufig betroffen wie Frauen.
Nierenzellkarzinome wachsen in der Regel langsam, aber
konstant und führen nach etwa 2 bis 5 Jahren zu Sympto-
men, entweder durch den Primärtumor oder durch seine
Metastasen. Sie sind im Frühstadium völlig symptomlos,
können jedoch durch eine Ultraschalluntersuchung ab ei-
nem Durchmesser von 1 bis 2 cm erkannt werden. Dies ist
heutzutage bei der Mehrzahl der Betroffenen der Fall.
In fortgeschrittenen Stadien treten bei Nierenzellkarzinomen
vielfältige, unspezifische Symptome auf. Hierzu gehören
Abgeschlagenheit, Übelkeit, Gewichtsverlust, Fieberschübe,
Nachtschweiß, Anämie. Die klassische Symptomentrias von
Flankenschmerz, Flankentumor und Hämaturie wird als
Zeichen eines ausgedehnten Tumors heutzutage nur noch
selten angetroffen.
Neben diesen allgemeinen und lokalen Symptomen finden
sich bei etwa 20 Prozent der Patienten paraneoplastische
Symptome. Hierzu zählen vor allem eine erhöhte Blutkör-
perchensenkungsreaktion, eine arterielle Hypertonie, eine
Anämie oder Polyzythämie, eine Hyperkalziämie und/oder
abnorme Leberwerte (Stauffer-Syndrom).
Der Sachverhalt
Die 76-jährige Antragstellerin befand sich von 1979 bis
2004 in der Behandlung des beschuldigten Allgemeinarztes.
Während dieser Zeit wurden 189 Praxisbesuche dokumen-
tiert. Aus den Abrechnungsscheinen und Eintragungen lie-
ßen sich folgende Diagnosen entnehmen: Schlafstörungen,
Hypertonie, Psychose, Klimax bei Rheuma und Struma,
Ausschluss einer Koronarkrankheit, BSG-Beschleunigung,
Hyperlipidämie, Diabetes mellitus, Verdacht auf Hepato-
pathie, Verdacht auf Hyperurikämie, Verdacht auf Eisen-
mangelanämie, Kreislaufstörungen, Verdacht auf Zystitis,
Hypercholesterinämie, HWS-Syndrom, Schwindel, Thrombo-
zytose und ab 2002 immer wieder BSG-Beschleunigung.
Von 1979 bis 2004 wurde bei der Patientin jährlich, teilweise
mehrfach, insgesamt 34-mal eine Blutkörperchensenkungs-
reaktion ermittelt. Sie lag in den Jahren 1979 bis 1997 zwi-
schen 5–20 zu 13–40. Ab 1998 wurden ansteigende Werte
festgestellt: 1998 30/60, 1999 22/40, 2001 24/42, 2002
50/78 und 54/76, 2003 44/64 und 40/60, 2004 70/80 und
54/73.
Ab 1988 wurden zeitgleich mit der Blutsenkungsreaktion
unter anderem Analysen des Blutbildes, der Fettwerte, der
Leberwerte, des Blutzuckers, der Harnsäure, des C-reaktiven
Proteins, der Schilddrüsenwerte, des Rheumafaktors, des
Eisenspiegels, der Elektrolyte und des Nierenwerts be-
stimmt. Hierbei fanden sich neben einer konstanten Hyper-
cholesterinämie und grenzwertigen Blutzuckerwerten
1992, 1993, 1997, 1998 und 2003 eine geringgradige Anämie,
2002 eine geringgradige Thrombozytose sowie 2002 und
2004 ansteigende Werte des C-reaktiven Proteins von 9,4
über 23,8 auf 69,9 mg/l. Weitergehende Untersuchungen,
insbesondere eine Ultraschalluntersuchung der Bauchorga-
ne, erfolgten nicht.
Die Patientin wurde am 14.9.2004 wegen epigastrischer
Schmerzen mit Inappetenz und Gewichtsabnahme als Not-
fall in einer medizinischen Klinik aufgenommen. Bei der
bildgebenden Diagnostik der Bauchorgane zeigten sich ein
großer Tumor der rechten und ein kleiner Tumor der lin-
ken Niere ohne Hinweis auf eine Metastasierung. Im Okto-
ber 2004 wurden die Tumoren durch eine rechtsseitige
Nephrektomie und eine linksseitige Teilresektion erfolg-
reich entfernt.
Gutachtliche Beurteilung
Bei der Patientin wurde vom März 1998 bis zum August
2004 insgesamt 9-mal eine erhebliche Erhöhung der Blut-
körperchensenkungsgeschwindigkeit mit ansteigender
Tendenz (von 30/60 auf 54/73) ermittelt. Ferner wurde bei
den Blutuntersuchungen im Oktober 2002 sowie im Juli
und August 2004 eine anfangs geringgradige, später stär-
kergradige Erhöhung des C-reaktiven Proteins (9,4; 43,8;
69,9 mg/l) festgestellt.
Insbesondere die Blutkörperchensenkungsreaktion ist eine
sensitive und spezifische Methode zur Erfassung von Ent-
zündungen oder Tumoren. Die normale Sedimentations-
geschwindigkeit der Erythrozyten ist niedrig, da ihre Ober-
fläche negativ geladen ist. Die gleichsinnig geladenen Teil-
chen halten sich auf Distanz und somit in der Schwebe. Bei
Anlagerung von Proteinen an die Erythrozytenoberfläche
kommt es zur Potentialminderung sowie zur Bildung von
Zellaggregaten und damit zur schnelleren Sedimentation.
Zur Erhöhung der Blutkörperchensenkungsgeschwindig-
keit trägt vor allem die vermehrte Bildung von Akute-Phase-
Proteinen (u.a. Fibrinogen, Alpha 2-Makroglobulin) und
Imunglobulinen bei. Akute und chronische Entzündungen,
aber auch maligne Tumore können so erfasst werden. Eine
starke Beschleunigung der Blutkörperchensenkungsge-
schwindigkeit zeigt jedoch nahezu immer eine Erkrankung
an und ist dementsprechend abzuklären. Gleiches gilt für
das C-reaktive Protein. Erhöhte Konzentrationen weisen
immer auf ein Krankheitsgeschehen. Ist eine Entzündung
auszuschließen, sollte eine Tumorsuche erfolgen. Insbeson-
dere das Nierenzellkarzinom kann inflammatorische Zyto-
kine (Interleukin 6) bilden, eine Akute-Phase-Antwort aus-
lösen und somit zu einem Anstieg des C-reaktiven Proteins
führen.
Bei der betroffenen Patientin wurde trotz der wiederholten
Befunde einer beschleunigten Blutkörperchensenkungs-
Versäumnisse bei der Diagnose eines Nierenzellkarzinoms