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Gutachtliche Entscheidungen

Erhebt ein Patient gegen eine Ärztin oder einen Arzt Scha-

denersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus vermuteter

fehlerhafter Behandlung, hat grundsätzlich der Patient zu

beweisen, dass dem Arzt ein Behandlungsfehler in Diagnos-

tik oder Therapie unterlaufen ist, und dass dieser Sorgfalts-

mangel ursächlich für den von ihm geltend gemachten Ge-

sundheitsschaden ist. Die Prüfung der Frage, ob der Arzt

den im Zeitpunkt der Behandlung geltenden Standard fahr-

lässig unterschritten hat

(§ 276 BGB)

und ihm deshalb ein

Behandlungsfehler vorzuwerfen ist, ist in der Medizinscha-

denbegutachtung regelmäßig weniger schwierig als die Be-

antwortung der Frage, ob der Patient durch den Fehler einen

Gesundheitsschaden erlitten hat oder voraussichtlich erlei-

den wird.

In diesem dreiteiligen Beitrag werden die für die Feststel-

lung des Ursachenzusammenhangs zwischen Behandlungs-

fehler und Gesundheitsschaden und die für die Beweiswür-

digung und Beweislastverteilung in der Rechtsprechung

entwickelten Grundsätze, die auch in der Spruchpraxis der

Gutachterkommission Beachtung finden, mit Fallbeispielen

erläutert. In diesem ersten Teil werden die Grundsätze des

Kausalitätsnachweises, in dem zweiten Teil Fragen der Be-

weiswürdigung und Beweislastverteilung behandelt. Im

dritten Teil werden Besonderheiten des Kausalitätsnach-

weises bei ärztlichen Aufklärungsversäumnissen darge-

stellt.

Zum Begriff des Gesundheitsschadens

Gesundheitsschäden sind nicht nur Dauerschäden, sondern

auch vorübergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen,

etwa vermeidbare Schmerzen, verlängerte Heilungsdauer,

die Belastung mit einer nicht indizierten Operation oder mit

notwendigen Revisionsoperationen. Ein Gesundheitsscha-

den kann sich auch in einer psychischen Erkrankung mani-

festieren. Bei verzögerter Krebsdiagnose lässt sich oft nicht

feststellen, ob zum Beispiel Brustamputation, Metastasie-

rung, psychische Belastung oder der Tod der Patientin bei

rechtzeitiger Diagnose vermeidbar gewesen wären.

Gleichwohl kann nach der Entscheidungspraxis der Gut-

achterkommission ein Gesundheitsschaden durch Ver-

schlechterung der Prognose und Verminderung der Hei-

lungschancen entstanden sein. In solchen Fällen erstattet –

wie die Gutachterkommission durch Rückfrage bei ärztli-

chen Berufshaftpflichtversicherern ermittelt hat – die Haft-

pflichtversicherung des belasteten Arztes meist einen Teil

des entstandenen Schadens. Allerdings gibt es Fälle, in de-

nen trotz verzögerter Diagnose eine Verminderung von

Heilungschancen nicht feststellbar ist, beispielsweise bei

besonders schnell wachsenden Tumoren, bei manchen

Melanomen oder bei Tumoren, die erst sehr spät diagnos-

tiziert werden konnten.

Beispiele:

Zwar war als fehlerhaft zu beanstanden, dass die an ei-

nem Diabetes mellitus leidende Patientin, die sich mit

Beschwerden und Schwellung an einem Fuß bei dem

Arzt vorstellte, über 6 Tage nicht adäquat behandelt

wurde, weshalb es zu einer Blutzuckerentgleisung mit

487 mg/% kam. Ob ohne diesen Behandlungsfehler der

später amputierte gangränose Fuß zu retten gewesen

wäre, blieb aber offen

(Fall Nr. 2006/0385)

.

Während der Vorsorgeuntersuchungen in der Schwan-

gerschaft erkannte der Arzt eindeutige sonographische

Hinweise auf eine Zwerchfellherniation des Feten nicht

und unterließ daher notwendige weitere Untersuchun-

gen. Der Tod des Kindes im Alter von 14 Monaten hätte

aber auch bei rechtzeitigem Nachweis der Zwerchfell-

hernie nicht verhindert werden können

(Fall Nr. 2006/

0356)

.

Die zur Abklärung von Oberbauchbeschwerden, Ge-

wichtsabnahme und Appetitlosigkeit durchgeführte

Diagnostik war zwar nicht umfassend, was zur vorwerf-

baren Verzögerung der Diagnose eines Pankreaskopf-

karzinoms um etwa 3 Monate führte. Auf den deletären

Verlauf der Erkrankung waren die Versäumnisse aber

ohne Einfluss

(Fall Nr. 2006/0495)

.

Nicht nur bei verzögerter Krebsdiagnostik, sondern auch bei

anderen Behandlungsfehlern hat die Gutachterkommission

die Verminderung von Heilungschancen als Gesundheits-

schaden festgestellt, beispielsweise wenn der – nicht grob

fehlerhaft handelnde – Notarzt bei Verdacht auf Herzin-

farkt, Schlaganfall oder Appendizitis den Patienten nicht in

ein Krankenhaus überwiesen oder wenn ein Krankenhaus

die gebotene intensivmedizinische Behandlung versäumt

oder den Patienten zu früh wieder in die Normalstation oder

die intermediate-care-Station verlegt hat.

Haftungsbegründende und

haftungsausfüllende Kausalität

Für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwi-

schen dem Arztfehler und dem geltend gemachten Primär-

schaden (haftungsbegründende Kausalität) ist die volle

Überzeugung des Gerichts oder der Gutachterkommission

erforderlich

(Vollbeweis i. S. v. § 286 ZPO)

. Das Beweismaß

ist allerdings im Arzthaftungsrecht abgemildert. Eine an

Sicherheit grenzendeWahrscheinlichkeit wird nicht voraus-

gesetzt, sondern nur eine überzeugendeWahrscheinlichkeit

im Sinne einer „praktischen Gewissheit“, die Zweifeln

Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen

(Steffen/

Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Auflage, Rn. 494, 513 m. w. N)

.

Voller Beweis kann auch mittels Indizien erbracht werden. Er

ist geführt, wenn bestimmte Tatsachen, beispielsweise Befun-

de oder die Art des Schadens (Indizien), zwingend auf andere

Tatsachen,etwa denVerlauf der Krankheit, schließen lassen.

Zur haftungsbegründenden Kausalität gehört nicht nur

die Gesundheitsverletzung, sondern der gesamte Primär-

Kausalität, Beweiswürdigung und Beweislastverteilung in der Arzthaftung

Teil 1 – Grundsätze des Kausalitätsnachweises