

Kausalität, Beweiswürdigung und Beweislastverteilung in der Arzthaftung
134
Gutachtliche Entscheidungen
Appendizitis ergeben und zu einer früheren Einweisung
und operativen Therapie führen müssen. Zu Lasten des
Arztes war imWege der Beweislastumkehr davon auszu-
gehen, dass die Appendixperforation durch rechtzeitige
Operation vermeidbar gewesen wäre
(Fall Nr. 2004/1135)
.
Dokumentationsmängel
Sind ärztlich gebotene Maßnahmen nicht dokumentiert
worden, kann dies indizieren, dass sie tatsächlich unterblie-
ben sind.Wird dadurch ein grober Behandlungsfehler indi-
ziert, können Dokumentationsmängel auch zu der Vermu-
tung führen, dass dadurch Gesundheitsschäden eingetreten
sind (Kausalitätsvermutung).
Beispiele:
Infolge von Dokumentationsmängeln, die eine Aufklä-
rung des Behandlungsgeschehens unmöglich machten,
trugen die Ärzte die Beweislast dafür, dass die im Zu-
sammenhang mit der Lagerung zu einer Gastrektomie
oder mit der Anlage eines zentralen Venenkatheters
entstandene obere Plexuslähmung nicht auf Sorgfalts-
mängeln beruhte. Dieser Beweis wurde nicht geführt
(Fall Nr. 1999/0043)
.
Aufgrund des Fehlens jeglicher Dokumentation über
eine in mehreren Sitzungen vorgenommene Rubin-
Lasertherapie traf den beschuldigten Chirurgen die
Beweislast für fehlerfreies Vorgehen bei der Entfernung
einer Tätowierung am streckseitigen linken Unterarm,
an dem Restpigmentierungen verblieben, zu deren Be-
seitigung weitere Laserbehandlungen erforderlich
waren
(Fall Nr. 2001/0048)
.
Voll beherrschbares Risiko
Nach den Grundsätzen des voll beherrschbaren Risikos hat
der Arzt eine Verschuldensvermutung zu entkräften, wenn
feststeht, dass die Schädigung aus einem Bereich stammt,
dessen Gefahren ärztlicherseits voll ausgeschlossen werden
können und müssen
(Steffen/ Pauge a. a. O. Rn 500 ff. m. w.
N.; Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht,
Kap. 7, Anm. 375)
. In einer Entscheidung jüngeren Datums
hat der Bundesgerichtshof (BGH) nach diesen Grundsätzen
eine Haftung des Arztes für die Entstehung eines Spritzen-
abszesses durch den Erreger Staphylokokkus aureus wegen
Hygienemängeln festgestellt
(BGH vom 20.03.2007 – VersR
2007, 847)
. In diesem Fall hatte eine erkrankte Arzthelferin,
die nachweislich selbst Trägerin des genannten Erregers
war, die beanstandete Injektion vorgenommen. Mit Rück-
sicht auf die in dem Rechtsstreit erwiesene Missachtung
hygienischer Vorsichtsmaßnahmen in der Praxis wurde die
Beweislast dafür, dass alle organisatorischen und technischen
Vorkehrungen gegen von dem Praxispersonal ausgehende
vermeidbare Keimübertragungen getroffenwaren,sie also kein
Verschulden an der Nichtbeachtung der Hygieneerforder-
nisse traf, auf die beklagten Ärzte verlagert. Diesen Entlas-
tungsbeweis konnten dieÄrzte nicht führen und mussten des-
halb für die Folgen der Infektion haftungsrechtlich einstehen.
Beim Einsatz eines medizinischen Gerätes kommt eine Haf-
tung des Arztes nur in Betracht, wenn er es zu verantworten
hat, dass sich das Gerät nicht in einem ordnungsgemäßen
technischen Zustand befindet, oder wenn er das Gerät nicht
ordnungsgemäß bedient und überwacht hat. Diese Voraus-
setzungen sind für den Fall verneint worden, dass geräte-
seitige technische Vorkehrungen zur Fehlerkontrolle (hier:
eines Bestrahlungsgerätes) vorhanden sind, die bei Nicht-
übereinstimmung von gewählter Spannungsstufe und Fil-
tereinstellung automatisch die Abgabe von Strahlung
verhindern, so dass manuell keine Kombinationen zu erzeu-
gen sind, die einen Strahlenschaden verursachen können
(BGH, Beschluss vom 13.02.2007 – VersR 2007, 1416)
.
Beweisvereitelung
Wird durch fahrlässige oder vorsätzliche Vernichtung von
erkennbar erheblichen Beweismitteln (z. B. Krankenunter-
lagen, Röntgenaufnahmen) die Beweisführung erschwert
oder vereitelt, kann dies in entsprechender Anwendung von
§ 444 ZPO
ebenfalls zu Beweiserleichterungen bis zur Um-
kehr der Beweislast führen.
Beispiele:
Weil die mikroskopischen Präparate der nach Amnio-
zentese vorgenommenen Chromosomenanalyse vor Ab-
lauf der Aufbewahrungsfrist vernichtet worden sind,
traf die Beweislast dafür, dass eine strukturelle Chromo-
somen-Aberration nicht schuldhaft verkannt wurde, den
beschuldigten Frauenarzt
(Fall Nr. 1996/0450)
.
Die Lagerung von Gewebeproben in Plastiksäcken stellt
einen Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen
Aufbewahrung von Befundträgern dar und kann zu Be-
weiserleichterungen führen. Ein Verstoß gegen die
Befundsicherungspflicht kann ein grober Behandlungs-
fehler sein
(OLG Hamm, Urteil vom 12.12.2001 – 3 U 119/00 –,
AHRS Teil III 6445/300)
.
Mitverschulden des Patienten
Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des
Patienten mitgewirkt, kann die Pflicht zum Schadensersatz
nach
§ 254 BGB
gemindert sein. Ein Mitverschulden des
Patienten kann in Betracht kommen, wenn der Patient den
Arzt zu spät aufgesucht, eine gebotene risikoarme und er-
folgversprechende Therapie verweigert, keine hinreichen-
de Compliance gezeigt, verschriebene Medikamente nicht
eingenommen, ärztliche Verhaltensmaßregeln nicht einge-
halten, sich entgegen ärztlicher Anweisung oder trotz
Verschlechterung seines Gesundheitszustands nicht wieder
vorgestellt oder durch zu häufigen Arztwechsel Diagnose
und Therapie erschwert hat.
Beispiel:
An der verzögerten Feststellung eines Riesenzelltumors
(Osteoclastom), die darauf zurückzuführen war, dass der
behandelnde Orthopäde eine röntgenologisch nachge-
wiesene bohnengroße zystenähnliche Aufhellung in der
Speichenbasis des rechten Handgelenks nicht sogleich
zum Anlass für weitergehende bildgebende Untersu-
chungen (CT/MRT) nahm, traf den Patienten ein Mit-
verschulden, weil er sich entgegen dem ihm erteilten Rat
nicht wieder bei dem Erstuntersucher vorgestellt hatte
(Fall-Nr.2005/1731)
.