

Kausalität, Beweiswürdigung und Beweislastverteilung in der Arzthaftung
Gutachtliche Entscheidungen
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schaden. Vollbeweis ist beispielsweise zu führen für die
Fragen,
ob der bei einem Kind vorliegende Hirnschaden auf
einen Behandlungsfehler des Geburtshelfers zurück-
zuführen ist oder
ob bei einem an einer Unterschenkelfraktur mit Sprung-
gelenksbeteiligung leidenden Patienten ein Kausal-
zusammenhang zwischen dem vom Arzt versäumten
Hinweis auf die Fristgebundenheit der Osteosynthese
und der später eingetretenen Gelenksarthrose besteht
(BGH, Urteil vom 24.06.1986 – AHRS
T
eil I 6505/2)
.
Nur für die „haftungsausfüllende Kausalität“, nämlich den
Ursachenzusammenhang zwischen dem Arztfehler und der
Weiterentwicklung des Primärschadens, gilt ein geringeres
Beweismaß (
§ 287 ZPO)
. Es reicht die überwiegende Wahr-
scheinlichkeit. Gericht und Gutachterkommission können
hierüber unterWürdigung aller Umstände nach freier Über-
zeugung entscheiden. Zur haftungsausfüllenden Kausalität
gehören beispielsweise an den ersten Schaden (Verletzungs-
erfolg) anknüpfende weitere gesundheitsschädigende Aus-
wirkungen des Behandlungsfehlers, aber auch Ansprüche
aus Verdienstausfall oder wegen Erwerbsunfähigkeit.
Beispiele:
Die Frage, ob die durch eine unterbliebene rechtzeitige
Faszienspaltung verursachte Nekrose der Muskulatur zu
einer nicht mehr beherrschbaren Infektion geführt hat,
die eine Amputation des Unterschenkels zur Folge hatte,
ist nicht unter den strengeren Voraussetzungen des
§ 286 ZPO
, sondern nach
§ 287 ZPO
zu beantworten
(BGH, Urteil vom 10.02.1987 – AHRS
T
eil I 6655/7)
.
Über die Frage, ob die durch einen ärztlichen Fehler
bei einer Operation entstandenen Schädigungen zu dem
behaupteten Verdienstentgang geführt haben, hat das
Gericht nach
§ 287 ZPO
unterWürdigung aller Umstände
nach freier Überzeugung zu entscheiden
(BGH, Urteil
vom 10.10.1967 – AHRS
T
eil I 6655/3)
.
Conditio sine qua non
Der ursächliche Zusammenhang setzt als Minimalerforder-
nis voraus, dass das zum Schadensersatz verpflichtende Er-
eignis – hier der Behandlungsfehler oder Aufklärungsman-
gel – nicht hinweggedacht oder, wenn der Fehler in einer
Unterlassung besteht, nicht hinzugedacht werden kann,
ohne dass der Schaden entfiele (condition sine qua non).
Diese Feststellung ist im Arzthaftungsrecht schwierig, weil
sich hypothetische Entwicklungen des menschlichen Orga-
nismus nicht mit naturwissenschaftlicher Sicherheit nach-
weisen lassen.
Die Ausräumung aller nur denkbaren abweichenden Mög-
lichkeiten ist aber für denWeg zur„praktischen Gewissheit“
nicht notwendig. Gleichwohl: wenn Juristen diese Kausali-
tätsfrage stellen,werden sie von den medizinischen Sachver-
ständigen nicht immer recht verstanden. Dazu kommt das
Alles-oder-Nichts-Problem: bei Bejahung der Kausalität
sprechen die Gerichte alles zu, bei ihrer Verneinung nichts.
Eine anteilige Bemessung des zu ersetzenden Schadens
nach dem Grad der Gewissheit ist dem deutschen Recht
fremd. Das hindert die ärztlichen Berufshaftpflichtversiche-
rer jedoch – wie dargelegt – nicht, bei Verschlechterung der
Heilungschancen den Schaden anteilig zu regulieren.
Adäquanztheorie
Den relevanten Zurechnungszusammenhang
(siehe Ab-
schnitt Zurechnungszusammenhang)
zwischen Fehler und
Schaden schränkt die in der Rechtsprechung herrschende
„Adäquanztheorie“ dahin ein, dass gänzlich unwahrschein-
liche Schäden dem Schädiger nicht zugerechnet werden.
Deshalb entfällt beispielsweise für den primär in Anspruch
genommenen Arzt der Zurechnungszusammenhang für
Schäden, die nachbehandelnde Ärzte später durch grobe
Fehler bei der Behandlung des Primärschadens hervorgeru-
fen haben
(BGH NJW 1989, 768; OLG Köln VersR 1994, 989)
.
Grundsätzlich haftet aber der Arzt auch für Schäden, die
durch (einfache) Fehler nachbehandelnder Ärzte entstan-
den sind; denn ohne den Erstfehler wäre es nicht zu dem
Folgeschaden gekommen.
Beispiel:
Bei sorgfältiger klinischer Untersuchung hätte den
Ärzten einer unfallchirurgischen Abteilung der unfall-
bedingte Quadrizepssehnenriss nicht entgehen dürfen.
Durch den Diagnosefehler wurde die erforderliche
Operation um 4 Wochen verzögert und eine fehlerhafte
konservative Therapie in der Tutorschiene und durch
elastische Wicklung des Oberschenkels eingeleitet.
Wenn der ambulant nachbehandelnde, am Begutach-
tungsverfahren nicht beteiligte Arzt seinerseits ebenfalls
Fehler gemacht haben sollte, beseitigt dies die Haftung
der Antragsgegner, die eine falsche Weichenstellung in
der Behandlung zu verantworten hatten, nicht
(Fall Nr.
2006/0665)
.
Zurechnungszusammenhang
Voraussetzung für die Einstandspflicht des Arztes ist, dass
zwischen Behandlungsfehler und Schaden ein Zurech-
nungszusammenhang besteht. Die adäquate Zurechnung
eines Schadens
(siehe Abschnitt Adäquanztheorie)
steht unter
dem Vorbehalt des haftungsbegrenzenden Zwecks der ver-
letzten Haftungsnorm. Eine Schadensersatzpflicht besteht
deshalb nur, wenn der geltend gemachte Schaden aus dem
Bereich der Gefahren stammt, zu deren Abwendung die ver-
letzte Norm – hier die Pflicht zur gebotenen Sorgfalt in
Diagnose und Therapie – erlassen wurde, also nicht für feh-
lerunabhängig eingetretene Schäden
(vgl. hierzu auch Stef-
fen/Pauge, a. a. O., Rn. 309 ff.; Wenzel (Hrsg.), Handbuch des
Fachanwalts Medizinrecht, Kap. 4, Rn. 349, 350)
.
Beispiel:
Ziehen die behandelnden Krankenhausärzte zur Vor-
bereitung einer orthopädischen Operation (hier: einer
Kyphoskoliose) konsiliarisch einen niedergelassenen
Gynäkologen hinzu, um das Bestehen einer Schwanger-
schaft bei der Patientin abzuklären, so werden bei
dessen Fehldiagnose der Unterhaltsaufwand und der
sonstige durch die Geburt des Kindes veranlasste mate-
rielle Schaden auch dann nicht von der Haftung des
Krankenhausträgers erfasst, wenn sich die Patientin bei