Background Image
Previous Page  135 / 258 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 135 / 258 Next Page
Page Background

Gutachtliche Entscheidungen

133

Im Anschluss an den im

Rheinischen Ärzteblatt Heft 9/2008

erschienenen erstenTeil dieses Beitrags

(siehe auch Seite 130)

,

der die Probleme des Kausalitätsnachweises im Arzthaf-

tungsrecht behandelt hat,werden nachstehend Einzelheiten

und Besonderheiten der Beweislastverteilung erörtert.

Ausnahmen von dem Grundsatz, dass der Patient den Ursa-

chenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und

dem auf diesen zurückgeführten Gesundheitsschaden nach-

zuweisen hat, ergeben sich in Fällen, in denen die Recht-

sprechung dem Patienten Beweiserleichterungen zubilligt.

Solche Beweiserleichterungen kommen im Arzthaftungs-

recht unter folgenden Umständen in Betracht:

Anscheinsbeweis

Gelegentlich erleichtert der Anscheinsbeweis (prima-facie-

Beweis) dem Patienten den ihm obliegenden Kausalitätsbe-

weis. Er setzt typische Geschehensabläufe voraus, bei denen

nach wissenschaftlicher Erkenntnis oder ärztlicher Erfah-

rung entweder von einem feststehenden Behandlungsfehler

auf dessen Kausalität für den eingetretenen Schaden oder

umgekehrt von einem eingetretenen Schaden auf einen be-

stimmten Behandlungsfehler als Ursache geschlossen wer-

den kann. Typische Geschehensabläufe sind in der Medizin

zwar selten, kommen aber durchaus vor. Einen Anscheins-

beweis hat die Gutachterkommission beispielsweise in fol-

genden Fällen als geführt angesehen:

Unmittelbar nach einer arthroskopischen Kniegelenks-

operation traten im Bereich der Blutdruckmanschette

Hautveränderungen auf, die nach dem Beweis des ersten

Anscheins vermeidbar durch unter die Manschette ge-

langtes Desinfektionsmittel oder eine andere Flüssigkeit

verursacht wurden

(Fall Nr. 1994/0361)

.

Bei einem 4 Monate nach Durchführung einer Rekto-

skopie nachgewiesenen 4 cm durchmessenden, bereits

in die Leber metastasierten Rektumkarzinom in einer

Höhe von 8 cm ab ano war aufgrund des Anscheins-

beweises davon auszugehen, dass seine verspätete Er-

kennung auf unsorgfältiger Durchführung der endo-

skopischen Untersuchung beruhte

(Fall Nr. 2001/0954)

.

Der Anscheinsbeweis wird entkräftet, wenn der Arzt dar-

legt und beweist, dass nach Konstitution und Krankheitsbild

des betroffenen Patienten die Möglichkeit eines atypischen

Geschehensablaufs ernsthaft in Betracht kommt. Dann hat

der Patient – wie sonst auch – den Beweis zu führen.

Grober Behandlungsfehler

Liegt ein grober Behandlungsfehler des Arztes vor, also ein

elementarer Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht, der aus ob-

jektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint,

weil er dem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf, ob-

liegt die Beweislast dafür, dass der Fehler den Gesundheits-

schaden verursacht hat, nicht mehr dem Patienten.Vielmehr

hat in einem solchen Fall der Arzt zu beweisen, dass sein

Fehler für den Schaden nicht ursächlich war. Die Beweisla-

stumkehr setzt allerdings voraus, dass der Fehler generell

zur Herbeiführung des eingetretenen Schadens geeignet ist;

naheliegend oder wahrscheinlich muss der Kausalzusam-

menhang nicht sein. Die Rückverlagerung der Beweislast

auf den Patienten kann der Arzt dann durch den Beweis er-

reichen, dass ein ursächlicher oder mitursächlicher Zusam-

menhang zwischen Fehler und Schaden ganz unwahr-

scheinlich ist.

Beispiele:

Schwerwiegend fehlerhaft war die zur Behandlung von

Spannungskopfschmerzen medizinisch nicht indizierte

Verordnung von Opioid-Analgetika in steigender Dosie-

rung (letzte mittlere Tagesdosis 400 mg Tilidin, 32 mg

Naloxan) über den Zeitraum von mehr als 3 Jahren.

Sie war geeignet, zu der eingetretenen Medikamenten-

abhängigkeit mit nachfolgender Entzugssymptomatik

zu führen (

Fall Nr. 2006/1472)

.

Unterlässt ein Arzt die gebotene feingewebliche Unter-

suchung der klinisch als Atherome oder seborrhoische

Warzen beurteilten Exzidate, ist ein im Rechtssinne

grober Behandlungsfehler festzustellen, der generell

geeignet ist, den 7 Monate später infolge eines metasta-

sierten malignen Melanoms eingetretenen Tod des

Patienten herbeizuführen

(Fall Nr. 2006/0274)

.

Unterlassene Befunderhebung

Eine Umkehr der Beweislast wegen Verletzung der Befund-

erhebungspflicht tritt ein, wenn der Arzt es schuldhaft un-

terlassen hat, medizinisch zweifelsfrei gebotene Befunde

zu erheben oder zu sichern, die mit hinreichender Wahr-

scheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis

gezeigt hätten, sofern die Verkennung dieses Befundes sich

als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob

fehlerhaft darstellen würde

(BGH, Urteil vom 6.7.1999 (VI ZR

290/98) – VersR 1999,1282)

.

Beispiele:

Der Antragsgegner hat die wegen des in der Erstunter-

suchung festgestellten Verdachts auf Zellatypien gebote-

ne Kontrollabstrichuntersuchung bei der Schwangeren

trotz des ausdrücklichen Hinweises des Zytologen auf

deren Notwendigkeit nicht vorgenommen. Dadurch

wurde ein Zervixkarzinom erst etwa 9 Monate verspätet

im Stadium Ib1 erkannt. Die Beweislast dafür, dass die

Verzögerung der Diagnose die Heilungschancen nicht

gemindert hat, trifft den Arzt

(Fall Nr. 2005/1255)

.

Der beschuldigte niedergelassene Arzt hat den über

Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfall klagenden

Patienten 4 Tage vor der stationären Krankenhausauf-

nahme nicht klinisch untersucht.Wären die gebotenen

Befunde rechtzeitig erhoben worden, hätte sich mit hin-

reichenderWahrscheinlichkeit der Verdacht auf eine

Kausalität, Beweiswürdigung und Beweislastverteilung in der Arzthaftung

Teil 2 – Einzelheiten zur Beweislastverteilung