

Haftung bei fehlender Indikation
Ein diagnostischer oder therapeutischer Eingriff, der medizinisch
nicht indiziert oder kontraindiziert ist, ist fehlerhaft, auch wenn er
sorgfältig durchgeführt wird. Die Indikation muss durch die Doku-
mentation der Anamnese, der Beschwerden oder die Befunder-
hebung – zumindest vertretbar – belegt sein. Der Arzt haftet an-
sonsten für alle Komplikationen, die aus dem Eingriff resultierten,
selbst wenn sie auch bei ordnungsgemäßem Vorgehen nicht stets
sicher vermeidbar sind.
„Übertherapie“ – Fehlende Indikation zu ärztlichen Maßnahmen
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Gutachtliche Entscheidungen
2. Medikation
Bei 39 Patienten wurde eine nicht beziehungsweise nicht
mehr indizierte Medikamentengabe festgestellt, darunter –
neben vielen Einzelfällen – fünfmal Antibiotika und viermal
Antikoagulantien. Eine unnötige Behandlung/„Überthera-
pie“ lag bei 9 Patienten vor. So erfolgte bei einem vermeint-
lichen „Burn-out“ bei einer 35-Jährigen behandlungsfehler-
haft nach einer Cortisol-Tagesmessung mit einem Wert im
unteren Normbereich eine Cortisongabe in Höhe von 20 mg
über drei Monate, trotzdem die Patientin mehrfach Beden-
ken äußerte, als sich Nebenwirkungen einstellten. Ein 71-
Jährigerwurde trotz untypischer Erstsymptomatik für einen
Morbus Parkinson fünf Jahre lang mit L-Dopa behandelt,
ohne dass die Diagnose untermauert oder ein Auslassver-
such unternommen wurde.
3. Injektionen
Bei den 25 nicht indizierten Injektionen spielten vor allem
Cortison-Injektionen in Verbindung mit Analgetika, Lokal-
anästhestika und nichtsteroidalen Antirheumatika eine Rol-
le (18 Fälle). Eine 71-Jährige mit erheblichen Schmerzen im
rechten Bein, bekannter Koxarthrose (mit Ablehnen einer
Hüftendoprothese) und Hemiparese rechts bekam behand-
lungsfehlerhaft fünfmal in sieben Wochen eine Corticoid-
Mischinjektion in das rechte Hüftgelenk verabreicht, wo-
durch wenige Zeit später eine septische Hüftkopfnekrose
auftrat, die nunmehr zur endoprothetischen Versorgung
zwang.
4. Andere Behandlungen
In neun der 16Verfahren,die nicht-interventionelle Behand-
lungen betrafen, wurde eine nicht indizierte oder überlange
konservative Therapie durchgeführt, darunter sieben Frak-
turen, ein Bandscheibenprolaps und ein Ulcus cruris. Ein 51-
Jähriger wurde trotz nicht gelungener Reposition ohne Er-
folgsaussichten mit einer Antiluxierbandage versorgt, ob-
wohl im Röntgenbild erkennbar war, dass eine verkippte
Steilstellung der Pfanne vorlag, die eine Revisionsoperation
erfordert hätte. Eine neuerliche Luxation führte zur Geh-
störung durch eine Nervus femoralis-Parese, für die die
Ärzte einzutreten hatten.
5. Interventionen
Bei den 19 Verfahren mit nicht indizierten interventionellen
Behandlungen handelte es sich – bis auf drei Harnwegska-
theter und zwei Ureterschienen – jeweils um Einzelfälle. Bei
einem 64-Jährigen wurde beispielsweise nach einem Apo-
plex auf der Stroke Unit fehlerhaft ein Harnblasenkatheter
über den siebten Tag hinaus weitere vier Tage belassen, ob-
wohl der Patient remobilisiert war und die ursprüngliche In-
dikation einer Flüssigkeitsbilanzierung bei Nierenfunkti-
onsstörung keinen Bestand mehr hatte. Bei einem 62-Jähri-
gen mit Verschlussikterus mit einer nichtoperativen Galle-
ableitung hätte acht bis elf Tage früher die OP-Indikation
durch einen Chirurgen geprüft/gestellt werden müssen, als
die Bilirubinwerte die Erfolglosigkeit der Maßnahme zeig-
ten und eine fieberhafte Cholangitis auftrat.
6. Eingriffe
Insgesamt waren 147 nicht indizierte operative Eingriffe
durchgeführt worden. Bei 28 Ersteingriffen, neun Teilein-
griffen und einer Revisionsoperation wurde eine unnötige
Therapie/„Übertherapie“ festgestellt. Beispielsweise fan-
den sich bei den Schultergelenksoperationen acht arthro-
skopische, drei offene und eine arthroskopische Re-Dekom-
pression, die nicht indiziert waren, darunter jeweils viermal
aufgrund einer „Übertherapie“ und eines Nichterhebens/
Nichtabwartens von Befunden, dreimal wurden konserva-
tive Therapieoptionen nicht ausgeschöpft und einmal eine
Kontraindikation nicht beachtet.
An einer Indikation zur Endoprothese fehlte es am Kniege-
lenk dreimal und am Hüftgelenk fünfmal. Weiterhin wur-
den an der Hüfte drei und am Knie eine nicht indizierte
Wechseloperationen durchgeführt. Am Kniegelenk erfolg-
ten sechs und am Hüftgelenk eine nicht indizierte Arthro-
skopie.
An der Wirbelsäule wurden jeweils drei nicht indizierte De-
kompressionen und drei Ballon-Kyphoplastien durchge-
führt, zweimal waren ein Spreizer, eine dorsale Versteifung
und eine Bandscheibenprothese nicht indiziert.
Fazit
In den Begutachtungen finden sich weder aktuell noch zu
früheren Zeiten Hinweise darauf, dass nordrheinische Ärzte
häufiger ihrer Sorgfaltsverpflichtung bei der Indikations-
stellung nicht nachkommen und unbegründete ärztliche
Maßnahmen durchführen. Jeder Einzelfall ist dennoch ei-
ner zu viel. Vor einer invasiven Maßnahme wäre jeder Arzt
gut beraten, zu hinterfragen, ob die konservativen Behand-
lungsmöglichkeiten wirklich ausgeschöpft worden sind
oder es eventuell weniger eingreifende Alternativen für die-
sen Patienten gibt, auch wenn das geplante Vorgehen stan-
dardgerecht ist und „gängiger“ Praxis entspricht. Die Risi-
ken eines Eingriffs dürfen gegenüber dem Patienten nicht
heruntergespielt werden und ihm sollten nicht nur die Er-
folgsaussichten, sondern auch klar die Grenzen und mögli-
cherweise auftretenden schwerwiegenden Komplikationen
der Behandlung aufgezeigt werden. Hierzu ist eine gute Do-
kumentation unerlässlich.
Rein ökonomische Beweggründe zum Vorteil des Arztes
dürfen nach ärztlichem Verständnis bei der Indikationsstel-
lung keine Rolle spielen, da damit das Vertrauen in die Ärzte-
schaft insgesamt Schaden nimmt.
Beate Weber
Literatur
[1] Fitting W. Der ärztliche Behandlungsfehler – vorhersehbar und
vermeidbar? Rheinisches Ärzteblatt 1992:4, 24–26