

der zumindest eine weiterführende Infusionstherapie erfor-
dert hätte.
Dies war zu beanstanden und hat die (widerlegbare) Vermu-
tung eines Behandlungsfehlers zur Folge, denn dem behan-
delnden Arzt (bzw. dem Pflegepersonal) obliegt die Pflicht,
jedenfalls die wichtigsten diagnostischen und therapeuti-
schen Maßnahmen sowie die wesentlichen Verlaufsdaten
zeitnah zu dokumentieren
(vgl. z. B. OLG Düsseldorf, MedR
1996, 79)
. Verletzungen der Dokumentationspflicht sind
zwar grundsätzlich keine Behandlungsfehler. Die wesent-
liche Bedeutung von Dokumentationsmängeln liegt viel-
mehr in den beweisrechtlichen Folgen. Die unterbliebene,
mangelhafte oder auch nur lückenhafte Dokumentation
aufzeichnungspflichtiger Maßnahmen indiziert, dass die
Maßnahme(n) nicht durchgeführt wurde(n), das heißt, es
wird zulasten des Arztes (widerlegbar) vermutet, dass die
ärztlichen Maßnahmen unterblieben sind oder nicht fachge-
recht ausgeführt wurden
(vgl. z. B. BGH, Urt. V. 7.5.1985 - VI
ZR 224/83, NJW 1985, 2193; vgl. zum Umfang der Dokumenta-
tionspflicht und zu den Aufbewahrungsfristen den dreiteiligen
Beitrag „Dokumentation in der Praxis“ in KVNO aktuell Dezem-
ber 2001, S. 30 ff., Januar/Februar 2002, S. 28 ff., März 2002
S. 30 ff.)
.
Die Gutachterkommission ist gemäß ihrer ständigen
Spruchpraxis in Fällen mangelhafter Dokumentationen in
Anwendung der vorgenannten Grundsätze von der Vermu-
tung ausgegangen, dass die gebotenen differenzialdiagnosti-
schen Überlegungen nicht angestellt und eine weiterführen-
de Infusionstherapie behandlungsfehlerhaft nicht durchge-
führt wurde. Allerdings ist es in derartigen Fällen mit den
Mitteln der Gutachterkommission nicht möglich, abschlie-
ßend zu klären, ob die durch den Dokumentationsmangel
begründete Vermutung den tatsächlichen Gegebenheiten
entspricht, denn die Kommission stützt ihre Entscheidung
unter Hinzuziehung fachsachverständiger Gutachten allei-
ne auf das Vorbringen der Beteiligten und die beigezogenen
medizinischen Unterlagen. Die Verwertung anderer Be-
weismittel, insbesondere die Anhörung von Zeugen ist ihr –
anders als im Rahmen eines zwischen den Beteiligten ge-
führten Gerichtsverfahrens – nicht möglich.
Postoperative Blutbildkontrollen/Bluttransfusion
Nachdem am 9. November eine postoperative Anämie fest-
gestellt wordenwar und die Patientin bis zur Entfernung der
Wunddrainagen am 10. November insgesamt 1,1 Liter Blut
verloren hatte, reduzierte sich die Blutmenge nach der Ope-
ration um etwa 20 Prozent. DieserWert ist in der Regel kein
zwingender Grund, Blut zu übertragen, ebenso wenig wie
der am 9. November festgestellte Hämoglobinwert von
7,4 g/dl und Hämatokritwert von 24 Prozent. Dass sich das
Blutbild nach einer Operation verändert, ist bekannt. Sonst
gesunde, vor allem jüngere Patienten erholen sich nach ei-
ner Infusionstherapie relativ schnell von dem Blutverlust,
sodass sich bereits nach wenigen Tagen die Blutwerte wie-
der normalisieren. Im vorliegenden Fall jedoch war schon
vor der Operation eine leichte Anämie vorhanden, sodass
der nicht unbedeutende Blutverlust während und nach der
Operation und die pathologischen Blutwerte am 9. Novem-
ber nicht nur eine sorgfältige Überwachung der Patientin er-
fordert hätten, sondern auch wiederholte Kontrollen des
Blutbildes.
Bereits am 10. November hätte eine erneute Kontrolle
durchgeführt werden müssen, um festzustellen, ob die Blut-
werte eine Tendenz zur Erholung zeigten. Wäre bei einer
weiteren Überprüfung keine Besserung festgestellt worden,
hätte auf Grund der anhaltenden Beschwerden noch vor der
Entlassung der Patientin eine Blutübertragung – hier durch
Verabreichung der beiden Eigenblutkonserven – erfolgen
müssen. Der Allgemeinzustand der Patientin war zum Zeit-
punkt der Entlassung offenbar derart stark beeinträchtigt,
dass der Hausarzt umgehend eine Bluttransfusion veranlass-
te, worauf sich die Blutwerte, vor allem aber der Allgemein-
zustand der Patientin besserten. Den Ärzten war stattdessen
bis zur Entlassung der Patientin am 19. November nicht be-
kannt, ob sich die pathologischen Blutwerte gebessert hat-
ten, und sie sahen offenbar auch keinen Zusammenhang
zwischen den Beschwerden der Patientin und den mögli-
chen Auswirkungen einer anhaltenden Anämie beziehungs-
weise eines Flüssigkeitsmangels.
Die unzureichenden Blutbildkontrollen und die unterblie-
bene Berücksichtigung des schlechten Allgemeinzustandes
der Antragstellerin und die deshalb ebenfalls unterbliebene
Bluttransfusion fallen den beschuldigten Ärzten als Befund-
erhebungsfehler zur Last.
Der Hinweis der Ärzte, der Hämoglobinwert von 7,4 g/dl
habe nicht den Leitlinien entsprochen, die festlegen, bei
welchen Laborwerten Blut übertragen werden sollte, wes-
halb auch keine Bluttransfusion vorgenommen wurde, ist
nicht überzeugend. Leitlinien legen zwar eine bestimmte
Behandlung im Sinne einer Orientierungshilfe nahe, doch
kann und muss davon abgewichen werden, wenn die klini-
sche Beurteilung und die ärztliche Erfahrung eine andere
Vorgehensweise notwendig machen.
Leitlinien sollen die Komplexität wissenschaftlicher Studien
und ärztlicher Erfahrungsberichte auf das für die ärztliche
PraxisWesentliche reduzieren und sind als Handlungsemp-
fehlungen an den Arzt zurWahrung von Qualitätsstandards
in der medizinischen Versorgung zu verstehen, wobei den
sog.
S 3-Leitlinien
ein „starker Empfehlungscharakter“ zu-
kommt
(vgl.OLG Köln,Urteil vom 21.9.2011 5 U 11/11;vgl. auch
Martis-Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Auflage, 2014, S. 571 ff.
m.w.N.).
Sie stellen gleichwohl – wie erwähnt – lediglich
ärztliche Orientierungshilfen im Sinne von Handlungs-und
Entscheidungskorridoren dar und sind nicht stets gleichbe-
deutend mit dem medizinischen Standard
(vgl. Laum/
Smentkowski: Ärztliche Behandlungsfehler – Statut der Gutach-
terkommission, 2. Auflage, 2006, S. 56)
. Zur Gewährleistung
einer dem medizinischen Standard gemäßen Behandlung
kann und muss der behandelnde Arzt vielmehr in begründe-
ten Fällen von den Leitlinien abweichen, denn Leitlinien
können nicht unbesehen mit dem ärztlichen Standard
gleichgestellt werden.Dies gilt auch für die Beurteilung ärzt-
licher Behandlungsfehler
(vgl. Glanzmann in: Bergmann/
Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, 1. Auflage, 2012,
§ 287 ZPO Rz. 25)
.
Um die gebotene, leitliniengerechte Behandlung sicherzu-
stellen, ist bei der ärztlichen Entscheidung, ob Blut übertra-
gen werden muss oder eine Infusionstherapie noch aus-
reicht, neben dem pathologischen Blutbild auch der Allge-
meinzustand des Patienten zu berücksichtigen. Danach war
226
Gutachtliche Entscheidungen
Verzögerte Behandlung einer postoperativen Anämie