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Bei der Beurteilung gilt es zu prüfen,

ob eine aus objektiver ärztlicher Sicht vertretbare Fehl-

interpretation vorliegt,

oder

ob Fehler bei der diagnostischen Untersuchung oder eine

Nichterhebung von (Kontroll)-Befunden zu einer vor-

werfbaren Fehlinterpretation geführt haben, was in der

Regel als einfacher Behandlungsfehler bewertet wird.

Auch die nicht zeitgerechte Überprüfung der (ersten) Ar-

beitsdiagnose bei Nichtansprechen der Therapie oder das

Auftreten von Krankheitssymptomen, die für die diagnosti-

zierte Erkrankung untypisch sind, gehören in diese Kategorie.

Die Beweislast dafür, dass ein vorwerfbarer Diagnosefehler

vorliegt und der Fehler für den beklagten Gesundheitsscha-

den ursächlich war, liegt grundsätzlich beim Patienten.

Wird aber die Erkrankung in unvertretbarerWeise gedeutet,

weil elementare Untersuchungen nicht durchgeführt oder

veranlasst wurden, und liegt damit ein aus ärztlicher Sicht

„unverständliches“ diagnostisches Vorgehen vor, führt der

deshalb festzustellende schwerwiegende Behandlungs-

fehler – das Gesetz spricht von einem groben Behandlungs-

fehler,

vgl. § 630h Abs. 5 BGB

– zur Umkehr der Beweislast

zu Lasten des Arztes. Das bedeutet, dass der Arzt nunmehr zu

beweisen hat, dass der Ursachenzusammenhang zwischen

Gesundheitsschaden und dem fehlhaften Vorgehen äußerst

unwahrscheinlich ist, was in vielen Fällen nicht gelingt.

Ein Diagnosefehler kann also liegen

in der Verkennung oder unzureichenden Auswertung

von Krankheitssymptomen,

in der ungenügenden Überprüfung von Verdachts-

diagnosen oder

in Verstößen gegen die Pflicht zur Erhebung gebotener

Befunde.

Ob der Behandlungsfehler zur Haftung des Arztes führt,

richtet sich danach, ob den Arzt einVerschulden oder gar ein

schwerwiegendes Versäumnis trifft.

Befunderhebungsfehler

Neben der Anamneseerhebung obliegt dem Arzt eine klini-

sche Untersuchung des Patienten. Je nach Befund und Dif-

ferenzialdiagnose schließt daran eine apparative Befunder-

hebung an, beispielsweise eine Labordiagnostik, eine dia-

gnostische Bildgebung, eine Konsiliaruntersuchung und

Ähnliches mehr. Die wichtigsten Daten und Befunde sind

zum Zwecke der Therapiesicherung und Erfüllung der Re-

chenschaftspflicht gegenüber dem Patienten zu dokumen-

tieren

(§ 630f Abs.1 und § 630h Abs. 3 BGB)

. Unterbleibt die-

se Dokumentation, so kann dies zu Lasten des Arztes zu der

Annahme führen, dass diese ärztliche Maßnahme unterblie-

ben oder nicht fachgerecht erfolgt ist

(siehe auch den Artikel

„Folgen ärztlicher Dokumentationsmängel“ im Rheinischen

Ärzteblatt 3/2013, Seiten 25–28)

. Ein Befunderhebungsfehler

liegt vor, wenn medizinisch gebotene Untersuchungen vor-

werfbar unterlassen wurden.

Folgen für die Haftung (Beweislastumkehr) ergeben sich

dann,wenn die Unterlassung der Befunderhebung selbst be-

reits als schwerwiegender Fehler zu bewerten ist oder wenn

der zu erwartende Befund mit hinreichender Wahrschein-

lichkeit (mehr als 50 Prozent) ein Ergebnis erbracht hätte,

das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und

wenn in der Nichterkennung und/oder im Unterlassen die-

ser Maßnahmen („Nichtreaktion“) ein schwerer Fehler zu

sehen wäre. Der Fehler muss allerdings generell geeignet

sein, den eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizufüh-

ren

(§ 630h Abs. 5 BGB)

. Auch eine unterlassene Sicherungs-

aufklärung über eine gebotene (dringende) Befunderhebung

kann zur Beweislastumkehr führen. Die bisher sogenannte

Sicherungsaufklärung fällt unter die in

§ 630c Abs. 2 BGB

ge-

nannten Informationspflichten. Wird eine Informations-

pflicht verletzt, ist zu fragen, ob der Patient bei entsprechen-

der Information die gebotenen Befunde (oder weitergehen-

de Diagnostik) hätte erheben lassen und welches Ergebnis

die Befunderhebung gehabt hätte.

II. Fallbeispiele

1. Einfacher Diagnosefehler

Ein einfacher Diagnosefehler wurde beispielsweise festge-

stellt, weil nach einem Sturz auf die Hand mit Druck-

schmerz über dem Processus styloideus radii eine sich auf

den Röntgenbildern darstellende Radiusfraktur nicht gese-

hen wurde,mit der Folge einer unzureichenden Behandlung

(Salben- statt ruhigstellender Gipsverband).Der Schaden be-

stand in der Verzögerung der Therapie und vermehrten Be-

schwerden der erst nach drei Monaten andernorts entdeck-

ten Fraktur.

2. Schwerwiegender Diagnosefehler

a) Im Aufnahme-EKG der Notaufnahme wurde von einem

Arzt der kardiologischen Abteilung unverständlicherweise

ein frischer Herzinfarkt im Frühstadium verkannt und da-

durch die invasive Diagnostik und Therapie um acht Stun-

den verzögert. Dies führte zu einer stärkeren Herzmuskel-

schädigung.

b) Die im präoperativen Röntgenbild vor einer Hüftendo-

prothese bei nur geringer Coxarthrose eindeutig dargestell-

ten hochgradigen Osteolysen im Schambein als Metastasen

eines vorbekanntem Prostatakarzinoms wurden unver-

ständlicherweise – das heißt grob fehlerhaft – nicht erkannt.

Der Fehler führte zu einem unnötigen, komplikationsrei-

chen endoprothetischen Eingriff sowie zu einer Therapie-

verzögerung um sechs Monate mit Beschwerden.

3. Einfacher Befunderhebungsfehler

Nach einem Motorradunfall unterblieb trotz Schmerzen am

linken Knie eine Röntgenaufnahme, weshalb eine laterale

Tibiakopfimpressionsfraktur um zehn Tage verspätet er-

kannt und nicht rechtzeitig operativ behandelt wurde.

4. Schwerwiegender Befunderhebungsfehler

a) Nach indizierter Osteosynthese einerUnterschenkeltrüm-

merfraktur trat ein arterieller Gefäßverschluss auf, der trotz

Hinweises des Pflegepersonals nachts nicht ärztlich unter-

sucht worden ist. Dies war eine grob fehlerhafte Unterlas-

sung einer dringend gebotenen Befunderhebung. Da die

Operation am nächsten Morgen die Blutversorgung nicht

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Gutachtliche Entscheidungen

Versäumte Befunderhebung: Folgen für die Beweislast