

Im Entlassungsbericht des Krankenhauses heißt es auszugs-
weise bezüglich der stationären Behandlung vom 28. März
bis 1. April:
„Diagnose: Tubare Extrauteringravidität links, akute Blu-
tungsanämie.
Therapie: Totale Salpingektomie bei Extrauteringravidität,
endoskopisch, Transfusion von Erythrozytenkonzentra-
ten.“
Gutachtliche Beurteilung
Die drei telefonischen Praxiskontakte imMärz hätten doku-
mentiert werden müssen. Dem behandelnden Arzt obliegt
die Pflicht, jedenfalls die wichtigsten diagnostischen und
therapeutischen Maßnahmen sowie die wesentlichen Ver-
laufsdaten zeitnah zu dokumentieren
(vgl. z. B. OLG Düssel-
dorf,MedR 1996, 79)
. Diese Pflichtverletzung hat die Gutach-
terkommission kritisiert.
Verletzungen der Dokumentationspflicht sind zwar grund-
sätzlich keine Behandlungsfehler. Die wesentliche Bedeu-
tung von Dokumentationsmängeln liegt vielmehr in den be-
weisrechtlichen Folgen. Die unterbliebene, mangelhafte
oder lückenhafte Dokumentation indiziert nach der Recht-
sprechung, dass die Maßnahme(n) nicht durchgeführt wur-
de(n), das heißt, es wird zulasten des Arztes (widerlegbar)
vermutet, dass die ärztlichen Maßnahmen unterblieben sind
oder nicht fachgerecht ausgeführt wurden
(vgl. z. B. BGH,
Urt. V. 07.05.1985 - VI ZR 224/83, NJW 1985, 2193; vgl. zum
Umfang der Dokumentationspflicht und zu denAufbewahrungs-
fristen den dreiteiligen Beitrag „Dokumentation in der Praxis“ in
KVNO aktuell, Dezember 2001, S. 30 ff., Januar/Februar 2002,
S. 28 ff., März 2002 S. 30 ff.)
.
Da die Inhalte der imMärz geführten Telefonate imWesent-
lichen unstreitig waren, war die grundsätzliche Indizwir-
kung des Dokumentationsmangels hier ohne Bedeutung.
Verletzungen der Dokumentationspflicht können aus-
nahmsweise Behandlungsfehler sein, wenn sie eine sonst
überflüssige Diagnoseuntersuchung oder vermeidbare Fehl-
therapie zur Folge hatten, auch wenn diese lege artis durch-
geführt wurden
(Laum/Smentkowski, Ärztliche Behandlungs-
fehler – Statut der Gutachterkommission, 2. Auflage, S. 110)
. Ist
die als unterblieben zu erachtende Maßnahme als grober
Behandlungsfehler zu bewerten oder stellt sie sich als Ver-
stoß gegen medizinisch zweifelsfrei gebotene Befunderhe-
bungspflichten dar, so kann der Dokumentationsmangel
auch zu derVermutung führen, dass hierdurch Gesundheits-
schäden eingetreten sind (Kausalitätsvermutung). Als Be-
handlungsfehlerwaren die beanstandeten Dokumentations-
mängel nicht zu bewerten.
Als behandlungsfehlerhaft zu rügen war jedoch, dass die Pa-
tientin nicht zu einer weiteren Untersuchung wieder einbe-
stellt wurde und der belastete Arzt nicht in weitere differen-
zialdiagnostische Überlegungen eintrat. Es war sachlich
nicht vertretbar, Beschwerden als psychosomatisch zu erklä-
ren, ohne vorher zu überprüfen, ob nicht somatische Prozes-
se die Beschwerden verursachen und einer mehr oder weni-
ger dringlichen Behandlung bedürfen. Die Patientin weist
zu Recht darauf hin, dass es die Aufgabe des Arztes ist, im
Rahmen differenzialdiagnostischer Überlegungen auch die
richtigen anamnestischen Fragen zu stellen, im vorliegen-
den Fall zum Beispiel auch die Möglichkeit einer Schwan-
gerschaft zu bedenken.
Die vom Frauenarzt angeführten Gründe entlasten ihn nicht
von der Pflicht, bei einer Frau mit Blutungen und Unter-
leibsschmerzen im reproduktionsfähigen Alter die Möglich-
keit einer Schwangerschaft und auch einer extrauterinen
Schwangerschaft in die differenzialdiagnostischen Erwä-
gungen und Untersuchungen mit einzubeziehen. Ein intra-
murales Myom ist nur in Ausnahmefällen eine Erklärung
für Dauerblutung und Unterbauchschmerzen – insbesonde-
re hätte unter derAnnahme von Myombeschwerden eine so-
nographische Kontrolle erfolgen müssen, um außergewöhn-
liche Konstellationen im Zusammenhang mit dem Myom,
wie rasches Wachstum oder Erweichung, auszuschließen.
Bei den fünf dokumentierten Blutungen in den neun Be-
treuungsjahren waren vier Blutungsursachen der Portio-
oberfläche zuzuordnen und wiesen einen anderen Charak-
ter als die lang anhaltende uterine Blutung im März 2011
auf. In der Tat hätte eine zytologische Untersuchung in ein
blutungsfreies Intervall verschoben werden müssen; dies
begründet allerdings nicht den Verzicht auf die sonstige Ab-
klärung akuter Beschwerden.
Vor dem Hintergrund der unterbliebenen Befunderhebung
gewinnt der Behandlungsfehler den Charakter eines Be-
funderhebungsfehlers, denn der Schwerpunkt der Pflicht-
verletzung des belasteten Arztes liegt nicht in der fehlerhaf-
ten, nicht mehr vertretbaren Diagnose einer „Belastungsre-
aktion imRahmen einer klimakterischen Blutungsstörung“,
sondern in der unterbliebenen Erhebung der gebotenen Be-
funde
(vgl. zur Abgrenzung des Diagnosefehlers vom Befund-
erhebungsfehler Martis – Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Auf-
lage, S. 741 und 1481 ff.m.w.N.;vgl. insbesondere auch BGH, Urt.
v. 21.12.2010 – VI ZR 284/09, VersR 2011, 44 ff.)
. Nach der
Rechtsprechung erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen
Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der
haftungsbegründenden Kausalität – das heißt hinsichtlich
des durch die unterbliebene Befunderhebung herbeigeführ-
ten Gesundheitsschadens (sog. Primärschaden) –, wenn be-
reits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebote-
nen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler dar-
stellt (etwa im Falle des Unterlassens elementar gebotener
diagnostischer Maßnahmen). Zudem kann auch eine nicht
grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu
einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des
Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheits-
schaden führen,wenn sich bei der gebotenen Abklärung der
Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so
deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich
dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion
hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Feh-
ler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Ge-
sundheitsschaden herbeizuführen. Wahrscheinlich braucht
der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein. Die verspä-
tete Befunderhebung steht einer unterlassenen Befunderhe-
bung gleich. Eine Umkehr der Beweislast ist nur dann aus-
geschlossen, wenn jeglicher Ursachenzusammenhang äu-
ßerst unwahrscheinlich ist oder es dem beschuldigten Arzt
durch seine Stellungnahme gelungen ist, zu beweisen, dass
der Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Ge-
sundheitsschäden und seinem Behandlungsfehler nicht vor-
Gutachtliche Entscheidungen
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Verkennen einer Extrauteringravidität