Redaktionelle Hinweise:
Hintergrund des Rechtsstreits ist ein Arbeitskampf in einer Einrichtung
der Diakonie. Die Synode der EKD hat am 9. 11. 2011 das Kirchenge-
setz u¨ber die Grundsa¨tze zur Regelung der Arbeitsverha¨ltnisse der Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie (ARRG-Diakonie-
EKD) beschlossen. Dieses gilt in den Gliedkirchen der EKD nach de-
ren Zustimmung. Arbeitsbedingungen fu¨r die Dienstverha¨ltnisse wer-
den hiernach in einer parita¨tisch gebildeten Arbeitsrechtlichen Kom-
mission und einer Schiedskommission festgelegt (sog. Dritter Weg).
Streik und Aussperrung sind gem. § 1 Abs. 3 Satz 5 ARRG-Diakonie-
EKD ausgeschlossen. Voraussetzung der Mitgliedschaft in der Arbeits-
rechtlichen Kommission ist die Befa¨higung zum Amt eines Presbyters
oder eines Kirchena¨ltesten in einer Gliedkirche der EKD bzw. ein ent-
sprechendes Amt. Zwei Drittel der von Mitarbeitervereinigungen ent-
sandten Vertreter – also insgesamt sechs – mu¨ssen im kirchlichen
Dienst ta¨tig sein. Der unparteiische Vorsitzende der Schiedskommis-
sion wird grundsa¨tzlich durch Beschlu¨sse der entsendenden Stellen be-
stimmt. Perso¨nliche Voraussetzung ist die Befa¨higung zum Richteramt.
Die beklagte Gewerkschaft ver.di hatte im Jahr 2009 die Bescha¨ftigten
zu Warnstreiks aufgerufen. Des Weiteren hat es bei der B Jugendhilfe
gGmbH, Hannover, die Mitglied des Kla¨gers zu 8) ist, am 4. 5. und am
24. 9. 2009 von der Beklagten organisierte Streiks gegeben.
Der 1. Senat hat die Revisionen der dem Bereich der Evangelischen
Kirche von Westfalen zuzuordnenden Kla¨ger schon deshalb als unbe-
gru¨ndet zuru¨ckgewiesen, weil dort fu¨r die Arbeitgeberseite die Mo¨glich-
keit besteht, einseitig zwischen unterschiedlichen Arbeitsrechtsregelun-
gen des Dritten Wegs zu wa¨hlen.
Volltext unter DB0585314.
II. Zweiter Weg – Obligatorische Schlichtung setzt
Bereitschaft zum Fu¨hren von Tarifverhandlungen
voraus
Anrufung der Schlichtung muss auch Gewerkschaft offen ste-
hen – Rechtskra¨ftige Abweisung eines Unterlassungsantrags
bezogen auf einzelnen Streik steht Wiederholungsgefahr ent-
gegen
GG Art. 140 iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV, Art. 9 Abs. 3, Art. 4
Abs. 1 und Abs. 2; BGB § 1004; AEUV Art. 153 Abs. 5, Art. 267
Abs. 3; GRC Art. 28; EUV Art. 6 Abs. 3; EMRK Art. 9, 11; ESC
Art. 6; ILO-U¨ bereinkommen Nr. 87; TVG § 4 Abs. 1; ZPO § 253
Abs. 2 Nr. 2
1.
Die Entscheidung der Kirche, ihre kollektive Arbeitsrechtsord-
nung auf der Grundlage des Tarifvertragsgesetzes zu regeln und
dieses entsprechend dem Leitbild der Dienstgemeinschaft zu mo-
difizieren, ist eine eigene Angelegenheit i. S. des Art. 4 Abs. 1 und
Abs. 2 i. V. mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV.
2.
Entscheidet sich die Kirche dafu¨r, bei einem Scheitern von
Tarifverhandlungen mittels eines obligatorischen Schlichtungs-
verfahrens den Interessenkonflikt zu lo¨sen, schließt das den Ar-
beitskampf zur Durchsetzung der wechselseitigen Tarifforderun-
gen der Dienstgeberseite und der Gewerkschaften aus. Dies setzt
aber ein Verfahren zum Ausgleich der strukturellen Verhand-
lungsschwa¨che der Arbeitnehmerseite voraus. Dieses muss ge-
eignet sein, Verhandlungsblockaden zu lo¨sen und die Einigungs-
bereitschaft der Dienstgeberseite zu fo¨rdern.
3.
Eine mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbare Zwangsschlichtung im
kirchlichen Bereich ist zur Herstellung eines Verhandlungs-
gleichgewichts geeignet, wenn die Dienstgeberseite die Aufnah-
me von Verhandlungen nur von der Einwilligung der Gewerk-
schaft in eine obligatorische Schlichtung abha¨ngig macht und
fu¨r diesen Fall das Fu¨hren von Tarifverhandlungen nicht verwei-
gert. Daru¨ber hinaus muss die Anrufung der Schlichtungskom-
mission und die U¨ berleitung des Verfahrens in dieses Gremium
der Gewerkschaft uneingeschra¨nkt offen stehen und im Falle
einer Nichteinigung beider Seiten die Unabha¨ngigkeit und Neu-
tralita¨t des Vorsitzenden auch durch das Bestellungsverfahren
gewahrt sein.
4.
Dagegen ist eine staatlich angeordnete Zwangsschlichtung
zur Vermeidung von Arbeitska¨mpfen mit der durch Art. 9
Abs. 3 GG gewa¨hrleisteten Koalitionsbeta¨tigungsfreiheit unver-
einbar. Das hindert Tarifvertragsparteien nicht daran, sich im
Rahmen der ihnen zustehenden Tarifautonomie darauf zu ver-
sta¨ndigen, dass im Konfliktfall an die Stelle einer Einigung ein
Schlichtungsspruch tritt.
5.
Es fehlt an der Wiederholungsgefahr fu¨r einen auf § 1004
BGB iVm. Art. 9 Abs. 3 GG gestu¨tzten Unterlassungsanspruch
eines Arbeitgeberverbands, wenn dessen Antrag auf die endgu¨l-
tige Unterlassung eines einzelnen als rechtswidrig angesehenen
Streiks im einstweiligen Verfu¨gungsverfahren rechtskra¨ftig abge-
wiesen worden ist, das Gericht dabei sa¨mtliche von dem Ver-
fu¨gungskla¨ger gegen die Zula¨ssigkeit des Arbeitskampfes ange-
fu¨hrten Gru¨nde gewu¨rdigt hat und im Rahmen einer Unterlas-
sungsklage keine beru¨cksichtigungsfa¨higen neuen Tatsachen
vorgetragen werden.
(Orientierungssa¨tze der Richterinnen und Richter des BAG)
BAG-Urteil vom 20. 11. 2012 – 1 AZR 611/11
u
DB0585437
Redaktionelle Hinweise:
Der Entscheidung zugrunde liegt ein Streit u¨ber die Zula¨ssigkeit von
Arbeitskampfmaßnahmen in kirchlichen und diakonischen Einrichtun-
gen. Der klagende Arbeitgeberverband ist ein rechtsfa¨higer Verein mit
Sitz in Kiel. Seine Gru¨ndung im Jahr 1979 beruhte auf einer Entschei-
dung der Synode der vormaligen Nordelbischen Evangelisch-Lutheri-
schen Kirche (NEK). Im Bereich der NEK galten seit 1961 mit Ge-
werkschaften abgeschlossene und als Tarifvertra¨ge bezeichnete Verein-
barungen. Die NEK schloss auch nach der im Jahr 1978 ausgesproche-
nen Empfehlung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) fu¨r
den sog. „Dritten Weg“ Tarifvertra¨ge ab.
Der Beklagte zu 2) ist der Bundesverband des Verbands der angestellten
und beamteten A¨ rzte in Deutschland. Beklagter zu 1) ist dessen Lan-
desverband Hamburg.
Der Bundesverband forderte den Kla¨ger mit Schreiben vom 22. 5. 2007
zu Tarifverhandlungen u¨ber den Abschluss eines Tarifvertrags fu¨r die
A¨ rzte bei den kirchlichen und diakonischen Anstellungstra¨gern der
NEK auf. In seinem Antwortschreiben vom 15. 6. 2007 machte der
Kla¨ger seine Verhandlungsbereitschaft von dem vorherigen Abschluss
des Grundlagentarifvertrags abha¨ngig.
Der Landesverband wandte sich in einem Schreiben vom 19. 8. 2009 an
die Gescha¨ftsfu¨hrung der Bethesda Allgemeines Krankenhaus gGmbH
(Bethesda gGmbH) in Hamburg-Bergedorf. In diesem teilte er mit,
dass sich die A¨ rzte des Krankenhauses in einer Urabstimmung fu¨r einen
Streik ab dem 31. 8. 2009 ausgesprochen ha¨tten, um den Kla¨ger zum
Abschluss eines arztspezifischen Tarifvertrags zu zwingen.
Der Kla¨ger forderte den Landesverband zur Unterlassung des angeku¨n-
digten Streiks auf und erkla¨rte erneut Verhandlungsbereitschaft unter
den Vorbehalten einer absoluten Friedenspflicht und dem Abschluss
einer Schlichtungsvereinbarung. Da der Landesverband hierauf nicht
reagierte, beantragten der Kla¨ger und die Bethesda gGmbH eine einst-
weilige Verfu¨gung mit dem Antrag, es dem Landesverband zu untersa-
gen, Arbeitskampfmaßnahmen durchzufu¨hren. Das ArbG Hamburg
wies den Antrag durch Urteil vom 27. 8. 2009 (– 5 Ga 3/09, ArbuR
2009 S. 430) ab. Gegen das den Verfu¨gungskla¨gern am 1. 9. 2009 zuge-
stellte Urteil haben diese kein Rechtsmittel eingelegt. Der Streik wurde
am 31. 8. 2009 durchgefu¨hrt.
Volltext unter DB0585315.
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Arbeitsrecht
DER BETRIEB | Nr. 15 | 12. 4. 2013
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