2. Ableitung aus allgemeinen Verfahrensgrundsa¨tzen
Vor diesem Hintergrund kann die Anwendung des Beschleuni-
gungsgebots auf das Einigungsstellenverfahren aus den allgemei-
nen, auch fu¨r das Einigungsstellenverfahren zu beachtenden
rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsa¨tzen abgeleitet werden.
a) Grundmaxime
Der Beschleunigungsgrundsatz ist eine rechtsgebietsu¨bergreifen-
de Grundmaxime der deutschen Prozessordnungen. Er ist im
Arbeitsgerichtsverfahren in § 9 Abs. 1 ArbGG belegt. Er gru¨n-
det auf den verfassungsrechtlichen (Art. 19 Abs. 4 GG) An-
spruch auf effektiven Rechtsschutz und soll verhindern, dass
Rechtspositionen irreversibel beeintra¨chtigt werden, ohne dass
ein gerichtlicher Ausgleich nachtra¨glich mo¨glich wa¨re
6
.
b) Zwangsschlichtungsstelle und normative Rechtssetzung
Die Anwendbarkeit der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsa¨tze
und somit auch des Beschleunigungsgrundsatzes auf das Eini-
gungsstellenverfahren ist ungekla¨rt. Teilweise wird eine Anwen-
dung als unstimmig verworfen
7
. Hinter dieser Aussage verbirgt
sich die Befu¨rchtung eines konturenlosen „Rosinenpickens“ und
der damit fehlenden Rechtssicherheit fu¨r den Rechtsanwender,
um – je nach Interessenlage – mal den einen, mal den anderen
Grundsatz heranzuziehen. Zudem wird diese ablehnende Aus-
sage mit dem privatrechtlichen Charakter der Einigungsstelle
begru¨ndet, wonach diese gerade nicht in die staatliche Gerichts-
barkeit eingebunden sei und somit die Anwendung gerichtlicher
Verfahrensordnungen ausscheide
8
. Der letztgenannte Einwand
ist jedoch als zu formal abzulehnen. Die Einigungsstelle ist als
betriebliche Schlichtungsstelle konzipiert, mithin besteht eine
dem Schlichtungsverfahren vergleichbare Interessenlage
9
. Die
Einigungsstelle ist als Zwangsschlichtungsstelle zu betrachten
10
.
Zudem produziert die Einigungsstelle normative, verbindliche
Regelungen. Daher ist es konsequent, elementare Rechtsgedan-
ken, die zum Grundgeru¨st aller Verfahrensordnungen za¨hlen,
auch auf das Einigungsstellenverfahren anzuwenden. Dies hat
auch das BAG erkannt und – ohne explizit auf den Beschleuni-
gungsgrundsatz abzustellen – bereits ausgefu¨hrt, dass der Rege-
lungs- und Verhandlungsfreiraum der Einigungsstelle durch die
allgemein anerkannten Grundsa¨tze begrenzt sei
11
. Diese ergeben
sich aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgebot (Art. 20
Abs. 1, Abs. 3 GG, Art. 28 Abs. 1 GG) und der Funktion der
Einigungsstelle als normative Regelungen setzendes Organ
12
.
c) Gesetzliche Anker
Im Einigungsstellenverfahren sind demnach die elementaren
rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsa¨tze
13
und in diesem Rahmen
auch der Beschleunigungsgrundsatz
14
zu beachten. Letzteres gilt
vor allem, da sich auch in der Einigungsstelle die Einigung zwi-
schen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite aufgrund einer u¨ber-
langen Verfahrensdauer als wertlos herausstellen kann
15
. Der
Gesetzgeber hatte zudem auch fu¨r die Errichtung der Eini-
gungsstelle ein beschleunigtes Verfahren vor Augen. Die zentra-
le Norm des § 98 ArbGG entha¨lt verschiedene Regelungen, die
Ausfluss der Beschleunigungsmaxime sind. Die Einlassungs-
und Ladungsfristen sind auf 48 Stunden verku¨rzt (§ 98 Abs. 1
Satz 4 ArbGG), die Zustellung der Entscheidung des Gerichts
muss nach spa¨testens vier Wochen erfolgen (§ 98 Abs. 1 Satz 6
ArbGG) und die Beschwerde an das LAG ist binnen zwei Wo-
chen einzulegen und zu begru¨nden (§ 98 Abs. 2 Satz 2 ArbGG).
Der Gesetzgeber hat auf eine schnelle Errichtung der Eini-
gungsstelle gedrungen, um das Ziel der Konfliktbewa¨ltigung im
Betrieb effektiv umzusetzen. Was aber fu¨r die Errichtung der
Einigungsstelle gilt, muss erst recht fu¨r das sich anschließende
Verfahren relevant sein. Die gesetzlich vorgegebene schnelle Er-
richtung der Einigungsstelle wa¨re andernfalls Makulatur, wenn
das Einigungsstellenverfahren von den Betriebsparteien beliebig
hinausgezo¨gert werden ko¨nnte. Die Pflicht zum unverzu¨glichen
Handeln beinhaltet vielmehr auch die Verpflichtung, das weitere
Verfahren so zu¨gig und konzentriert abzuwickeln, wie es der je-
weilige Streitfall zula¨sst
16
. Auch § 76 BetrVG entha¨lt selbst
Hinweise darauf, dass das Einigungsstellenverfahren im Licht
der Beschleunigungsmaxime zu interpretieren ist, demnach die
Einigungsstelle nach § 76 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unverzu¨glich
ta¨tig zu werden hat.
Schließlich kann das Beschleunigungsgebot aus der Koope-
rationsmaxime des § 2 BetrVG abgeleitet werden. Im Einzel-
fall
17
kann es gem. § 2 BetrVG sogar geboten sein, eine be-
schleunigende Verfahrensregelung abzuschließen, z. B. indem
von vornherein ein zeitnaher Termin zur Konstituierung der
Einigungsstelle bestimmt wird
18
.
IV. Beschleunigungsgebot und (Nicht-) Beru¨cksichti-
gung der Verhinderung des Beisitzers
Der Einigungsstellenvorsitzende ist als Leiter des Einigungsstel-
lenverfahrens gehalten, auf eine zu¨gige Durchfu¨hrung des Eini-
gungsstellenverfahrens zu dra¨ngen.
1. Zusta¨ndigkeit des Einigungsstellenvorsitzenden
Ihm obliegt es kraft seiner Leitungsfunktion, die Sitzungen der
Einigungsstelle einzuberufen, zu leiten und sonstige verfahrens-
leitende Maßnahmen zu treffen
19
. Ihm steht auch die Termin-
hoheit zu
20
, zu deren Ausu¨bung er in Bezug auf die Beschleuni-
gungsmaxime gehalten ist, nach der unverzu¨glichen Einsetzung
der Einigungsstelle die (Folge-)Termine angemessen zeitnah zu
terminieren und eine tatsa¨chliche Durchfu¨hrung der terminier-
ten Sitzungen sicherzustellen.
2. Konsensorientierte Leitung
Die Rolle des Vorsitzenden bewegt sich jedoch in einem Span-
nungsfeld zwischen der beschleunigten Verfahrensleitung und
der von ihm zu beachtenden Unparteilichkeit
21
, die ihn nach
einvernehmlichen Lo¨sungen mit den Betriebsparteien suchen
lassen wird. Da zudem die Einigungsstelle – vorbehaltlich der
Sa¨umnis ordnungsgema¨ß eingeladener Mitglieder (§ 76 Abs. 5
6 S. nur BeckOK/
Hamacher
, 16. Aufl. 2012, § 46 ArbGG Rdn. 30; Mu¨nchKomm-
ZPO/
Heilmann
, 3. Aufl. 2010, § 155 FamFG, Rdn. 26.
7 GK-BetrVG/
Kreutz
, 9. Aufl. 2009, § 76 BetrVG Rdnrn. 99f.
8
Kreutz
, a.a.O. (Fn. 7), § 76 BetrVG Rdn. 99.
9
Scho¨nfeld
, NZA 1988 Beil. 4 S. 5.
10 BVerfG vom 18. 10. 1986 – 1 BvR 1426/83, NZA 1988 S. 25; Lo¨wisch
/Kaiser
,
6. Aufl. 2010 § 76 BetrVG Rdn. 1.
11 BAG vom 28. 5. 2002 – 1 ABR 37/01, DB0044655 = NZA 2003 S. 171.
12 BAG vom 18. 4. 1989, a.a.O. (Fn. 5); vom 18. 1. 1994 – 1 ABR 43/93, DB
1994 S. 838 = NZA 1994 S. 571; demzufolge erkennt das BAG auch die Un-
wirksamkeit eines von der Einigungsstelle gefassten Sachbeschlusses, wenn
in dem Einigungsstellenverfahren gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen
Grundsa¨tze verstoßen wurde.
13
Kaiser
, a.a.O. (Fn. 10), § 76 BetrVG Rdn. 26; Mu¨nchHdbArbR/
Joost
, 3. Aufl.
2009, § 232 Rdn. 30.
14 HWK/
Kliemt
, 5. Aufl. 2012, § 76 BetrVG Rdn. 45; BeckOK/
Werner
, § 76
BetrVG Rdn. 24,
Scho¨nfeld
, NZA-Beil. 4/1988 S. 9.
15 Vgl.
Hauck/Helml
, Komm-ArbGG, 4 Aufl. 2010, § 9 Rdn. 2.
16
Fitting
, 26. Aufl. 2012, § 76 BetrVG Rdn. 43
17 BAG vom 2. 3. 1982 – 1 ABR 74/79, DB 1982 S. 1115.
18 Vgl. auch
Bengelsdorf
, BB 1991 S. 613 (621).
19
Kreutz
, a.a.O. (Fn. 7), § 76 Rdn. 99; ErfK/
Kania
, 13. Aufl. 2013, § 76 BetrVG
Rdn. 14.
20
Kliemt
, a.a.O. (Fn. 14), § 76 BetrVG Rdn. 46.
21 S. dazu nur Richardi/
Richardi
, 13. Aufl. 2012, § 76 BetrVG Rdn. 52.
DER BETRIEB | Nr. 15 | 12. 4. 2013
Arbeitsrecht
815