Die Feststellung des Scheiterns der Interessenausgleichsver-
handlungen liegt zwar generell im Ermessen des Einigungsstel-
lenvorsitzenden
41
. Eine Ausnahme ist aber fu¨r den Fall anzuneh-
men, dass der Vorsitzende eine bewusste Verzo¨gerungspolitik
betreibt
42
bzw. diese Vorgehensweise der Arbeitnehmerseite
durch die Beru¨cksichtigung der Arbeitskampfta¨tigkeit des Eini-
gungsstellenmitglieds bei der Terminierung billigt. Diese Aus-
nahme gru¨ndet auf der Verpflichtung des Vorsitzenden zur Un-
parteilichkeit (s. o. IV. 2), die es ihm verbietet, nicht beru¨cksich-
tigungsfa¨hige Verhinderungsgru¨nde bei der Terminierung der
Sitzungen zu beachten. In einem solchen Fall darf der Arbeit-
geber das Scheitern der Einigungsstelle ohne das Haftungsrisiko
aus § 113 Abs. 3 BetrVG auslo¨sen und das Scheitern der Inte-
ressenausgleichsverhandlungen erkla¨ren. Die dem Arbeitgeber
diese Befugnis absprechende Ansicht, die das Erkla¨ren des
Scheiterns der Interessenausgleichsverhandlungen neben dem
Einigungsstellenvorsitzenden allein der Einigungsstelle als Gre-
mium zubilligt
43
, ist abzulehnen. Sie beru¨cksichtigt nicht die –
auch – dem Regelungsmechanismus der §§ 112 f. BetrVG fu¨r
die gesetzliche Ausgestaltung der Interessenausgleichsverhand-
lungen zugrunde liegende verfassungsrechtlich geschu¨tzte unter-
nehmerische Beta¨tigungsfreiheit des Arbeitgebers. Der Gesetz-
geber hat mit dem nach § 112 Abs. 3 Satz 2 BetrVG von ihm
fu¨r den Interessenausgleich allein geforderten (ernstlichen) Ver-
such der Einigung das mo¨gliche Scheitern der Interessenaus-
gleichsverhandlungen vor der Einigungsstelle als Programmsatz
bestimmt. Das Scheitern der Einigungsstelle nach ernsthaften
Verhandlungen ist faktischer Natur, die Feststellung des Schei-
terns in der Konsequenz deklaratorisch. Dem Gesetz ist die al-
leinige Kompetenz des Vorsitzenden bzw. der Einigungsstelle
als Gremium zur Feststellung des Scheiterns nicht zu entneh-
men. Der Arbeitgeber wu¨rde zudem regelma¨ßig keine Mehrheit
in der Einigungsstelle finden, um das Scheitern der Einigung zu
beschließen, wenn die Arbeitnehmerseite diese aus taktischen
Gru¨nden bewusst verzo¨gert und der Vorsitzende dies billigt.
3. Herleitung und Dokumentation des Scheiterns
Erforderlich und ausreichend fu¨r den dem Scheitern der Interes-
senausgleichsverhandlungen vorausgehenden – Nachteilaus-
gleichsanspru¨che nach § 113 Abs. 3 BetrVG verhindernden –
Versuch der Einigung u¨ber den Interessenausgleich ist vielmehr,
ob und dass in dem konkreten Einigungsstellenverfahren fu¨r bei-
de Seiten ausreichend Gelegenheit bestand, einen Interessenaus-
gleich zu vereinbaren. Dies ist regelma¨ßig der Fall, wenn die
Verfahrensbeteiligten auf ernsthafte Weise unter Einbeziehung
der Vorschla¨ge der Einigungsstelle die vorgebrachten Argumen-
te ero¨rtert haben bzw. jedenfalls an dem Einigungsstellenverfah-
ren mit einer entsprechend dokumentierbaren ernsthaften Ver-
handlungs- und Ero¨rterungsbereitschaft mitgewirkt haben
44
.
Der Arbeitgeber dokumentiert diese ernsthafte Verhand-
lungs- und Ero¨rterungsbereitschaft mit einer Mitwirkung an
den vom Vorsitzenden terminierten Sitzungen. Vorbehaltlich
der individuellen Umsta¨nde des konkreten Einigungsstellenver-
fahrens wird der ernsthafte Versuch der Einigung u¨ber den Inte-
ressenausgleich bereits bei der rechtswidrigen Beru¨cksichtigung
irrelevanter Verhinderungsgru¨nde einzelner Einigungsstellen-
mitglieder als gescheitert angesehen werden ko¨nnen.
Der Arbeitgeber wird das Scheitern nicht bereits bei der erst-
maligen Verschiebung eines Verhandlungstermins aufgrund von
Arbeitskampfmaßnahmen erkla¨ren. Der ernsthafte Versuch des
Arbeitgebers zur Einigung u¨ber den Interessenausgleich wird
aber angenommen werden ko¨nnen, wenn der Arbeitgeber zu-
na¨chst zwei von ihm bzw. vom Vorsitzenden vorgeschlagene
und vom Vorsitzenden aus vom Einigungsstellenmitglied der
Arbeitnehmerseite angefu¨hrten irrelevanten Verhinderungsgru¨n-
den verschobene Verhandlungstermine abwartet und das Schei-
tern der Interessenausgleichsverhandlungen nach der dritten Be-
ru¨cksichtigung einer irrelevanten Verhinderung erkla¨rt. Der Ar-
beitgeber hat bei einem solchen Zuwarten die ernsthafte Ver-
handlungsbereitschaft zum Interessenausgleich vor der Eini-
gungsstelle dokumentiert und dem Vorsitzenden die Mo¨glich-
keit ero¨ffnet, seine unzutreffende Rechtsansicht zur (Nicht-) Be-
achtung solcher Verhinderungsgru¨nde zu korrigieren und das
Verfahren unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes
weiter zu fu¨hren und abzuschließen.
Zur Dokumentation des Scheiterns der Interessenausgleichs-
verhandlungen wird der Arbeitgeber den Einigungsstellenvorsit-
zenden jeweils auf die unberechtigte Beru¨cksichtigung des vom
arbeitnehmerseitigen Einigungsstellenmitglieds angefu¨hrten
Verhinderungsgrundes hinweisen und diesen Hinweis im Ver-
handlungsprotokoll schriftlich dokumentieren (lassen). Die Do-
kumentation hat auch die Gru¨nde zu umfassen, die aus Sicht des
Arbeitgebers das Scheitern der Einigungsstelle begru¨nden.
VII. Zusammenfassung
Anla¨sslich einer Betriebsa¨nderung durchgefu¨hrte Verhandlun-
gen und Arbeitskampfmaßnahmen um den Abschluss eines Ta-
rifsozialplans und die Verhandlungen um den Abschluss eines
Interessenausgleichs und Sozialplans stehen nicht in Wechsel-
wirkung zueinander. Beide Verfahren sind unabha¨ngig von-
einander durchzufu¨hren.
Der Einigungsstellenvorsitzende hat bei der Durchfu¨hrung
des Einigungsstellenverfahrens das Beschleunigungsgebot zu be-
achten. Das Beschleunigungsgebot ha¨lt den Vorsitzenden bei
der Terminierung und Durchfu¨hrung der Einigungsstellensit-
zungen dazu an, die Sitzungen zeitnah zu terminieren und
durchzufu¨hren und die von einem Einigungsstellenmitglied an-
gebrachten Verhinderungsgru¨nde nur im Ausnahmefall zu be-
achten. Ein Ausnahmefall liegt generell nur dann vor, wenn das
Einigungsstellenmitglied an der Teilnahme an der konkreten
Einigungsstellensitzung aus unverschuldeten, zum Bestellungs-
zeitpunkt nicht erkennbaren Gru¨nden gehindert ist.
Die koalitionsspezifische Beta¨tigung des Einigungsstellen-
mitglieds, vor allem durch die Teilnahme an einem bzw. die Or-
ganisation eines Arbeitskampf(es) u¨ber den Abschluss eines Ta-
rifsozialplans zu relevanten Betriebsa¨nderung, beinhaltet grund-
sa¨tzlich keinen beru¨cksichtigungsfa¨higen Verhinderungsgrund
fu¨r die Verschiebung bzw. Durchfu¨hrung einer Einigungsstel-
lensitzung. Der Einigungsstellenvorsitzende wahrt in diesem
Fall die ordnungsgema¨ße Beteiligung des Einigungsstellenmit-
glieds durch die rechtzeitige Einladung zu der Sitzung.
Beru¨cksichtigt der Einigungsstellenvorsitzende unberechtigt
einen irrelevanten Verhinderungsgrund des Einigungsstellen-
mitglieds, kann der Arbeitgeber aufgrund der damit verbunde-
nen bewussten Verzo¨gerung des Verfahrens durch den Vorsit-
zenden die Interessenausgleichsverhandlungen – ohne das Haf-
tungsrisiko aus § 113 Abs. 3 BetrVG befu¨rchten zu mu¨ssen –
fu¨r gescheitert erkla¨ren.
41
Kania/Joppich,
NZA 2005 S. 749 (751).
42 DKK/
Da¨ubler
, §§ 112, 112a BetrVG Rdn. 9;
Kania/Joppich
, NZA 2005 S. 749
(751).
43
Fitting
, a.a.O. (Fn. 16), § 112 BetrVG Rdn. 42; BeckOK/
Besgen
, § 112 BetrVG
Rdn. 7.
44
Kania/Joppich
, NZA 2005 S. 749 (752).
818
Arbeitsrecht
DER BETRIEB | Nr. 15 | 12. 4. 2013
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