Rechtsanwalt Dr. Lars Hinrichs, LL.M. (Univ. Stockholm) / Ass. jur. Aurelia Boltze, Mag. jur., Hamburg
Verhinderung des Beisitzers in der Einigungsstelle
wegen Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen
u
DB0585462
I. Einleitung
Spa¨testens seit dem Urteil des BAG vom 24. 4. 2007
1
zur Zula¨s-
sigkeit eines Tarifsozialplans und eines dazu gefu¨hrten Arbeits-
kampfs sieht sich der eine Betriebsa¨nderung mit Personalabbau
planende (tarifgebundene) Arbeitgeber ha¨ufig parallel auf der
betrieblichen Ebene und auf der Tarifebene Sozialplanforderun-
gen ausgesetzt. Jedenfalls dann, wenn der tariflichen Beta¨tigung
die tarifliche Friedenspflicht nicht entgegensteht
2
, hat der Ar-
beitgeber auch die entsprechenden Aktivita¨ten der zusta¨ndigen
Gewerkschaft(en) bei der Planung und Durchfu¨hrung der Be-
triebsa¨nderung zu beru¨cksichtigen.
Dabei ist in der ju¨ngeren Zeit eine Modifizierung des ge-
werkschaftlichen Vorgehens zu verzeichnen. Anstelle des Ver-
suchs der Verhinderung der Betriebsa¨nderung
3
sind die Gewerk-
schaften dazu u¨bergegangen, die Personalmaßnahme nicht mehr
in Frage zu stellen, den Arbeitgeber aber durch Streiks wa¨hrend
der Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen zu Zu-
gesta¨ndnissen auf der betrieblichen Ebene zu bewegen (meist
einen geringeren Personalabbau und ho¨here Sozialplanleistun-
gen fu¨r die betroffenen Arbeitnehmer). Oft werden die Tarifso-
zialplanforderungen erst zu einem Zeitpunkt erhoben, zu dem
die Verhandlungen zwischen den Betriebsparteien auf der be-
trieblichen Ebene bereits gescheitert sind und eine Seite die Ein-
setzung einer Einigungsstelle beantragt hat.
Der Vorsitzende der Einigungsstelle sieht sich dann bei den
Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen – mittelbar
– auch der Einwirkung der Gewerkschaft ausgesetzt, die den
Tarifsozialplankonflikt fu¨hrt. Ein Spannungsfeld besteht vor al-
lem, wenn die Arbeitnehmerseite als Beisitzer fu¨r die Eini-
gungsstelle Personen bestimmt, die auf der tariflichen Ebene
die Auseinandersetzung zum Abschluss des Tarifsozialplans
fu¨hren und darauf gerichtete Arbeitskampfmaßnahmen organi-
sieren. Das kann erhebliche Verzo¨gerungen in der Durchfu¨h-
rung des Einigungsstellenverfahrens verursachen, besonders
wenn die Beisitzer der Arbeitnehmerseite einzelne Verhand-
lungstermine aufgrund der Arbeitskampfmaßnahmen verscho-
ben wissen wollen.
II. Keine Interdependenz zwischen Einigungsstellen-
verfahren und Tarif(sozialplan)konflikt
Anrufung der Einigungsstelle zu den Interessenausgleichs- und
Sozialplanverhandlungen schließt die Zula¨ssigkeit eines paralle-
len Arbeitskampfs nicht aus. Auch wenn Gewerkschaftsfunktio-
na¨re als externe Einigungsstellenbeisitzer teilnehmen, handelt es
sich bei der Einigungsstelle um eine Schlichtung im konkreten
Betrieb, die vom Tarifkonflikt losgelo¨st ist. Ein Streik als Annex
der Tarifautonomie gem. Art. 9 Abs. 3 GG kann wa¨hrend des
Einigungsstellenverfahrens zula¨ssig sein, wenn die Vorausset-
zungen fu¨r seine Rechtma¨ßigkeit erfu¨llt sind. Nach der Recht-
sprechung des BAG kommt dem Interessenausgleichs- und So-
zialplanverfahren insoweit kein Vorrang zu
4
.
Das Einigungsstellenverfahren ist unabha¨ngig vom Tarif(so-
zialplan)konflikt fortzufu¨hren und nicht etwa im Hinblick auf
den Tarifkonflikt auszusetzen. Die Einigungsstelle wird in ihrer
Ermessensentscheidung allenfalls der wirtschaftlichen Belastung
des Arbeitgebers aus dem Tarifsozialplan unter Beru¨cksichti-
gung der Leitlinien nach § 112 Abs. 5 Satz 2 BetrVG Rechnung
tragen und ggf. eine Anrechnungsklausel fu¨r entsprechende Ta-
rifsozialplanleistungen vorsehen.
III. Allgemeines Beschleunigungsgebot im Einigungs-
stellenverfahren
Der Arbeitgeber ist regelma¨ßig bestrebt, das Einigungsstellen-
verfahren mo¨glichst zu¨gig zum Abschluss zu bringen. Dieses In-
teresse beinhaltet die Vorgabe fu¨r den Einigungsstellenvorsitzen-
den, das Verfahren in allen Stadien zu beschleunigen.
1. Gesetzliche Ausgangslage
Die gesetzlichen Regelungen sehen ein solches Beschleunigungs-
gebot nicht ausdru¨cklich vor. Der Gesetzgeber hat das Verfahren
vor der Einigungsstelle – anders als ihre Errichtung – nur unvoll-
kommen geregelt. § 76 Abs. 3 BetrVG schreibt lediglich die
mu¨ndliche Beratung, die Abstimmung durch den Spruchko¨rper,
den Abstimmungsmodus sowie die schriftliche Niederlegung
und die Zuleitung der Beschlu¨sse § 76 Abs. 5 Satz 2 BetrVG be-
stimmt fu¨r die Beschlussfassung der Einigungsstelle eine rechtzei-
tige Ladung ihrer Mitglieder. ImU¨ brigen u¨berla¨sst das Gesetz der
Einigungsstelle – im Interesse einer effektiven Schlichtung – einen
Freiraum in der Gestaltung der Durchfu¨hrung des Verfahrens
5
.
Die Anwendung gerichtlicher Verfahrensregelungen (z. B.
§§ 80 ff. ArbGG, §§ 1025 ff. ZPO) scheidet aus, da die Eini-
gungsstelle als privatrechtliches Schlichtungsverfahren nicht in
die staatliche Gerichtsbarkeit eingebunden ist. Der Gesetzgeber
hat mit dieser rudimenta¨ren Regelung des Einigungsstellenver-
fahrens aber nicht bezweckt, einen regelfreien Raum zu schaffen.
Dies ergibt sich bereits imUmkehrschluss aus § 76Abs. 4 BetrVG,
der die Regelung von Einzelheiten des Einigungsstellenverfahrens
durch eine Betriebsvereinbarung ermo¨glicht. Aus der lu¨ckenhaf-
ten gesetzlichen Regelung kann nicht geschlossen werden, der Ge-
setzgeber habe die Anwendung des Beschleunigungsgebots aus-
schließen wollen.
Dr. Lars Hinrichs
ist Rechtsanwalt der KPMG Rechtsanwaltsgesell-
schaft mbH in Hamburg.
Aurelia Boltze
ist Regierungsra¨tin im
Bundesministerium des Innern in Berlin. Der Beitrag gibt die per-
so¨nliche Auffassung der Autoren wieder.
1 BAG vom 24. 4. 2007 – 1 AZR 252/06, DB 2007 S. 1924 = NZA 2007 S. 987.
2 S. zur Rechtswidrigkeit eines Arbeitskampfs zum Abschluss eines Tarifsozial-
plans wegen Verletzung der Friedenspflicht LAG Berlin-Brandenburg vom
28. 9. 2007 – 8 Sa 916/07, DB 2008 S. 415.
3 S. nur LAG Hamm vom 31. 5. 2000 – 18 Sa 858/00, NZA-RR 2000 S. 535 zur
Rechtswidrigkeit eines auf den Abschluss eines Standortsicherungs-Tarifver-
trages zur Verhinderung einer vom Arbeitgeber geplanten Betriebsverlegung
gerichteten Arbeitskampfs.
4 BAG vom 24. 4. 2007, a.a.O. (Fn. 1). Fu¨r einen solchen Vorrang eine vor die-
ser Entscheidung in der Literatur vertretene Auffassung mit gewichtiger Ar-
gumentation; s. nur
Hohenstatt/Schramm
, DB 2004 S. 2214, m. w. N.
5 BAG vom 18. 4. 1989 – 1 ABR 2/88, DB 1989 S. 1926 = NZA 1989 S. 807.
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Arbeitsrecht
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