Getrennte Veranlagung bei Insolvenz eines Ehepartners
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DB0588256
Die Wahl der getrennten Veranlagung in
Kenntnis der Insolvenz des Ehepartners
ist dann nicht rechtsmissbra¨uchlich i. S.
des § 42 AO, wenn die LSt-Klassen-Kom-
bination III/V bereits vor vielen Jahren
in Unkenntnis der Insolvenz gewa¨hlt wor-
den ist. Eine Pflicht zur A¨ nderung der
LSt-Klassen-Kombination aufgrund der
Insolvenz des Ehepartners besteht nicht.
Eine A¨ nderungsmo¨glichkeit eines bereits
bestandskra¨ftigen ESt-Bescheids von ge-
trennter Veranlagung zur Zusammenver-
anlagung als ru¨ckwirkendes Ereignis i. S.
des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO kann auch nicht
u¨ber die Fiktion eines anderen Sachver-
halts gem. § 42 AO gesehen werden (FG
Mu¨nster, Urteil vom 4. 10. 2012 – 6 K
3016/10 E, DB0556861, rkr.).
Sachverhalt
Die Kla¨ger sind seit dem 24. 10. 1986
verheiratet und seither zusammen zur ESt
veranlagt. Auf ihren LSt-Karten ließen
sich die Kla¨ger vor vielen Jahren die Steu-
erklasse III bzw. V eintragen. Seither er-
teilte die Gemeinde die LSt-Karten ja¨hr-
lich – ohne gesonderten Antrag – mit
entsprechend ausgewiesenen LSt-Klassen.
Am 23. 3. 2006 wurde u¨ber das Ver-
mo¨gen des Kla¨gers ein Insolvenzverfahren
ero¨ffnet. Am 25. 3. 2008 reichten die Kla¨-
ger dem FA ihre ESt-Erkla¨rung 2006 zur
Bearbeitung ein, wobei sie eine getrennte
Veranlagung beantragten. Antragsgema¨ß
veranlagte das FA die Kla¨ger zuna¨chst
mit gesonderten Bescheiden vom 15. 4.
2008 getrennt zur ESt fu¨r 2006. Gegen-
u¨ber dem Kla¨ger setzte das FA eine ESt
i. H. von 3.188 € fest, was unter Beru¨ck-
sichtigung von anrechenbarer LSt zu einer
Nachzahlungsverpflichtung i. H. von
2.354 € fu¨hrte. Dieser ESt-Bescheid 2006
erging unter dem Vorbehalt der Nachpru¨-
fung. Der gegenu¨ber der Kla¨gerin ergan-
gene ESt-Bescheid 2006 setzte eine ESt
von 0 € fest, was unter Beru¨cksichtigung
von anrechenbarer LSt zu einem Gesamt-
erstattungsbetrag von 1.568,76 € fu¨hrte.
Der gegenu¨ber der Kla¨gerin ergangene
ESt-Bescheid 2006 erging nicht gem.
§ 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt
der Nachpru¨fung und erwuchs in Be-
standskraft. Das ESt-Guthaben der Kla¨ge-
rin i. H. von 1.568,76 € wurde an sie erstat-
tet.
Mit Bescheid vom 6. 3. 2009 hob das
FA die beiden ESt-Bescheide 2006 der
Kla¨ger vom 15. 4. 2008 auf und veranlag-
te die Kla¨ger gemeinsam zur ESt. Dies
fu¨hrte zu einer (gemeinsamen) ESt-Fest-
setzung i. H. von 1.863 €. Zur Begru¨n-
dung fu¨hrte das FA aus, dass eine ge-
trennte Veranlagung nur gewa¨hlt worden
sei, da die hieraus folgende ESt-Nachzah-
lungsverpflichtung des Kla¨gers wegen
dessen Insolvenz nicht durchsetzbar sei.
Gem. § 42 Abs. 1 Satz 3 AO sei die Steu-
erveranlagung daher ohne den miss-
bra¨uchlichen Antrag durchzufu¨hren. Dies
fu¨hre zu einer Zusammenveranlagung.
Der bereits in Bestandskraft erwachsene
ESt-Bescheid der Kla¨gerin vom 15. 4.
2008 sei gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO a¨nderbar, da mit der Fiktion eines
anderen Sachverhalts, na¨mlich der ange-
messenen Gestaltung, ru¨ckwirkend der
tatsa¨chlich verwirklichte Sachverhalt ent-
falle.
Entschiedene Rechtsfragen
Als ein ru¨ckwirkendes Ereignis i. S. des
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO kann nach
Auffassung des FG Mu¨nster auch nicht
in der Fiktion eines anderen Sachverhalts
im Rahmen des § 42 AO angesehen wer-
den. Zwar wird in der Literatur vertreten,
dass eine A¨ nderung gem. § 175 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 AO bei der Fiktion eines an-
deren Sachverhalts gem. § 42 AO in Be-
tracht kommt (
Dru¨ en
, in: Tipke/Kruse,
AO/FGO, § 42 AO Rdn. 52). Hinter-
grund ist, dass eine doppelte Besteuerung
– zum einen nach der unangemessenen
Gestaltung und zum anderen nach der
angemessenen Gestaltung – zu vermeiden
ist. Ist aufgrund der unangemessenen Ge-
staltung bereits eine Steuer in einem an-
deren Vz. gezahlt worden oder hat sich
die unangemessene Gestaltung bei einer
anderen Steuerart zulasten des Stpfl. aus-
gewirkt, so gilt auch hier § 42 Satz 2 AO,
d. h. der Steueranspruch entsteht so, wie
er der angemessenen Gestaltung ent-
spricht. Ist die Steuer bereits festgesetzt
worden, so muss der Steuerbescheid auf-
gehoben oder gea¨ndert werden. Insoweit
kommt nach Auffassung von
Dru¨ en
§ 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zum Zuge, denn
der tatsa¨chlich verwirklichte Sachverhalt
entfa¨llt ru¨ckwirkend mit der Fiktion eines
anderen Sachverhalts, na¨mlich der ange-
messenen Gestaltung. Die Fiktion der an-
gemessenen Gestaltung sei das ru¨ckwir-
kende Ereignis (
Dru¨ en
, a.a.O., § 42 AO
Rdn. 52).
Die Wahl der getrennten Veranlagung
ist im Streitfall auch nicht rechtsmiss-
bra¨uchlich i. S. des § 42 AO und damit
unbeachtlich. Ein Rechtsmissbrauch kann
sich aber ergeben, wenn Eheleute mehr-
fach sachlich zusammenha¨ngende Wahl-
rechte im Hinblick auf eine miteinander
getroffene, fu¨r sich gesehen rechtlich zu-
la¨ssige Wahl ausu¨ben, um einerseits eine
Steuererstattung zu erreichen, andererseits
aber die Durchsetzung der damit verbun-
denen Steuernachforderung zu vereiteln,
sodass sich trotz ho¨herer Steuerfestset-
zung als bei angemessener Gestaltung
eine geringere tatsa¨chliche steuerliche Be-
lastung der Eheleute ergibt. § 42 AO er-
fasst gerade die Fa¨lle, in denen gesetzlich
zula¨ssige rechtliche Gestaltungen gewa¨hlt
werden, die im Einzelnen nicht zu bean-
standen sind, in ihrer Gesamtheit aber
nur dazu dienen, Steuern zu vermeiden,
sei es durch eine niedrigere Steuerfestset-
zung oder durch eine Vereitelung der Bei-
treibung. Das nur unter steuerlichen As-
pekten sinnvolle Zusammentreffen meh-
rerer im Einzelnen gesetzma¨ßiger Verhal-
tensweisen oder Gestaltungen in der aus-
schließlichen Absicht, die Festsetzung der
Steuer oder die Steuerzahlung zu vermei-
den, soll nach § 42 AO steuerrechtlich
wirkungslos bleiben. Diesem Gesetzes-
zweck kann nicht mit Erfolg die Recht-
ma¨ßigkeit jedes Einzelakts des Gesamt-
werks entgegengehalten werden, andern-
falls liefe die Vorschrift als Ganzes ins
Leere (BFH-Urteil vom 15. 7. 2004 – III
R 66/98, BFH/NV 2005 S. 186,
m. w. N.).
Praxishinweise
Die Zusammenveranlagung scheiterte
letztlich an einer A¨ nderungsnorm, da die
Festsetzung gegenu¨ber der Kla¨gerin be-
reits bestandskra¨ftig geworden war. § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO kam nach An-
sicht des FG Mu¨nster als A¨ nderungsvor-
schrift nicht in Betracht, auch nicht u¨ber
eine Fiktion i. S. von § 42 AO, wonach
steuerliche Gestaltungen wirkungslos sein
sollen, wenn sie in ihrer Gesamtheit nur
dazu dienen, Steuern zu vermeiden, sei es
durch eine niedrigere Steuerfestsetzung
oder durch eine Vereitelung der Beitrei-
bung. Da die Kla¨ger von vorneherein die
getrennte Veranlagung beantragt haben
und das FA entsprechend festgesetzt hat-
te, schied die nachtra¨gliche A¨ nderung in
eine Zusammenveranlagung aus. Interes-
sant wa¨re in diesem Zusammenhang die
Frage gewesen, ob es rechtma¨ßig gewesen
wa¨re, wenn das FA sofort bei der Erstver-
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Kurz kommentiert
DER BETRIEB | Nr. 19 | 10. 5. 2013