Gegenteilige Auffassung mit Rechtsstaatsprinzip unvereinbar
(2)
Die gegenteilige Auffassung des FA ist mit den aus dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Anfor-
derungen an die Bestimmtheit von Eingriffsrecht und die grds.
Bindung des Richters an das Gesetz unvereinbar. Sie liefe auf ei-
ne vom Gesetz nicht vorgesehene Gefa¨hrdungshaftung hinaus.
Auch der Umstand, dass der Kla¨ger gerade durch das ihm zur
Last gelegte Verhalten die Enttarnung der Bankkunden aktiv er-
schwert und z. T. vereitelt hat, vermag keine Ausweitung der
Haftung u¨ber den gesetzlichen Tatbestand hinaus zu rechtfer-
tigen.
Kein reduziertes Beweismaß fu¨r U¨ berzeugungsbildung des Ge-
richts
(3)
Das FG hat seine U¨ berzeugung gem. § 96 FGO zu Recht
nach demselben Beweismaß wie bei anderen steuer- oder haf-
tungsbegru¨ndenden Tatsachen gebildet, nicht aber nach einem
reduzierten Beweismaß anhand eines bestimmten Wahrschein-
lichkeitsmaßstabs, wie ihn das FA mit einem Sicherheits-
abschlag von 25% zugrunde legen will. Durch einen solchen
Sicherheitsabschlag erho¨ht sich na¨mlich nur die Wahrschein-
lichkeit, dass die gescha¨tzte Haftungssumme den tatsa¨chlichen
Steuerschaden nicht u¨bersteigt, nicht jedoch die Wahrschein-
lichkeit fu¨r das Vorliegen der Tatsachen, aus denen sich in der
Vielzahl der Einzelfa¨lle die Steuerhinterziehung dem Grund
nach ergibt.
cc)
Die auf der Grundlage der dargestellten Grundsa¨tze vor-
genommene Wu¨rdigung der entscheidungserheblichen Tatsa-
chen durch das FG ist jedenfalls mo¨glich; an die (negative) tat-
sa¨chliche Feststellung eines haftungsbegru¨ndenden Tatbestands
durch das Gericht ist der BFH deshalb gebunden (§ 118 Abs. 2
FGO).
(1)
Zum einen gibt es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass,
wer Kapital anonym ins Ausland verbringt, auch in der Steuer-
erkla¨rung unrichtige Angaben hinsichtlich der daraus erzielten
Ertra¨ge macht
7
.
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung ebenfalls unzula¨ssig
(2)
Zum anderen hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu bean-
standender Weise die Ha¨ufigkeit der Steuerhinterziehung in der
Gruppe der enttarnten Kunden bei der Pru¨fung einer mo¨glichen
Steuerhinterziehung durch nicht enttarnte Kunden der Bank
mangels Mo¨glichkeit weiterer entsprechender tatsa¨chlicher Fest-
stellungen unberu¨cksichtigt gelassen. Andernfalls ha¨tte die
U¨ berzeugungsbildung auf einer reinen Wahrscheinlichkeits-
betrachtung beruht, die mit dem unter 1. b) dargestellten Gebot
der richterlichen U¨ berzeugungsbildung fu¨r Sachverhalte, fu¨r die
das FA die Feststellungslast tra¨gt, unvereinbar gewesen wa¨re.
(3)
Die Pru¨fung der Haftungsvoraussetzungen nach § 71 AO
verlangt – wie dargelegt – tatsa¨chliche Feststellungen, aus denen
sich das Vorliegen einer Steuerhinterziehung dem Grund nach
ergibt. Dies erfordert im Regelfall Feststellungen zur Zurechen-
barkeit anonymisierter Kapitaltransfers ins Ausland zu bestimm-
baren Stpfl. und Feststellungen, die die U¨ berzeugung begru¨n-
den, dass diese Stpfl. in ihren Steuererkla¨rungen dazu keine oder
unrichtige Angaben gemacht haben.
Solche tatsa¨chlichen Feststellungen waren indessen – auch nach
Ansicht des FA – im Streitfall nicht mo¨glich, sodass dahinste-
hen kann, ob das Merkmal der „Steuerhinterziehung“ in § 71
AO auch ohne (namentliche) Kenntnis des Ta¨ters in Betracht
kommt. Die erforderlichen tatsa¨chlichen Feststellungen waren
jedenfalls deshalb nicht durch Erkenntnisse aus der Gruppe der
enttarnten Kunden zu ersetzen, weil selbst nach den Angaben
des FA in der Gruppe der enttarnten Kunden nicht sa¨mtliche
Kunden in ihren ESt-Erkla¨rungen unrichtige Angaben gemacht
haben. Vielmehr habe „nahezu kein“ enttarnter Kunde die im
Ausland erzielten Ertra¨ge deklariert, was jedoch Ausnahmen
einschließt. Hinzu kommt, dass nach den Angaben des FA in
etwa 6% der Fa¨lle aus anderen Gru¨nden eine Steuerverku¨rzung
nicht eingetreten ist.
(4)
Der Streitfall gibt schließlich keine Veranlassung, abschlie-
ßend dazu Stellung zu nehmen, ob und ggf. unter welchen Vo-
raussetzungen Wahrscheinlichkeitsaussagen u¨berhaupt zur rich-
terlichen U¨ berzeugungsbildung herangezogen werden du¨rfen,
weil das FG seine Entscheidungsbildung auf solche Wahr-
scheinlichkeitsaussagen nicht gestu¨tzt hat.
>
Anmerkung von RiBFH Joachim Moritz, Mu¨nchen
Die Rezensionsentscheidung hat insofern Bedeutung, als es sich
um den ersten einer Anzahl von beim BFH anha¨ngigen Fa¨llen
handelt, bei denen Mitarbeiter von Banken wegen Beihilfe zur
Steuerhinterziehung in Anspruch genommen wurden. Die Be-
sonderheit des Falls lag darin, dass die Finanzverwaltung
3
/
4
der
Vorga¨nge einzelnen (enttarnten) Kunden zuordnen konnte,
wa¨hrend die restlichen Kunden (mehr als 1.100) anonym blie-
ben. Immerhin hatten mehr als 600 Personen aus dem Kreis der
anonymen Kunden Wertpapiere mit einem Nominalwert von
insgesamt mehr als 300 Mio. DM ins Ausland transferiert. Das
FA nahm den Kla¨ger, einen leitenden Bankmitarbeiter, darauf-
hin unter Berufung auf § 71 AO in Anspruch, obwohl unklar
war, ob die anonymen Kunden tatsa¨chlich eine Steuerhinterzie-
hung begangen hatten bzw. ob ihr Vorgehen u¨berhaupt eine
steuerverku¨rzende Wirkung besaß.
FG wie BFH haben die Haftungsvoraussetzungen indes verneint.
Der BFH stellt darauf ab, eine Haftung gem. § 71 AO verlange,
dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung i. S. des § 370 AO
erfu¨llt ist und die entsprechenden Tatsachen hinsichtlich einer
sicher bestimmbaren Zahl von Fa¨llen festgestellt werden ko¨nnen.
Daran scheiterte es hier schon deshalb, weil man wegen der Ano-
nymita¨t derjenigen Kunden, die nicht enttarnt werden konnten,
nicht ermitteln konnte, ob diese tatsa¨chlich eine Steuerhinterzie-
hung begangen haben. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen,
dass vermutlich auch einige aus dem Kreis der anonymen Kunden
– ebenso wie die enttarnten – den Tatbestand des § 370 AO erfu¨llt
haben. Ob das wirklich der Fall war und ob dieses Vorgehen zu
einer Steuerverku¨rzung gefu¨hrt hat, musste indes offenbleiben.
Den Gedanken an eine gruppenbezogene Betrachtung unter Ver-
weis auf die enttarnten Kunden hat der BFHmit der Begru¨ndung,
der strafrechtliche Begriff der Steuerhinterziehung gebiete eine auf
den Einzelfall abstellende Betrachtung, verworfen. Gleiches gilt
fu¨r Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen oder die U¨ berlegung, fu¨r
die U¨ berzeugungsbildung des Gerichts komme ein reduziertes Be-
weismaß zum Tragen. Denn nach wie vor gebe es keinen Erfah-
rungssatz, dass derjenige, der Kapital anonym ins Ausland verbrin-
ge, in der Steuererkla¨rung unrichtige Angaben hinsichtlich der da-
raus erzielten Ertra¨ge mache. Ob dieser Grundsatz angesichts der
ju¨ngsten Vero¨ffentlichungen in der Presse zum Thema „Steuer-
oasen und Steuerhinterziehung“ so noch stehenbleiben kann, sei
dahingestellt.
Redaktioneller Hinweis:
Volltext-Urteil online: DB0586738.
7 Vgl. BFH-Urteil vom 20. 6. 2007 – II R 66/06, BFH/NV 2007 S. 2057.
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Steuerrecht
DER BETRIEB | Nr. 15 | 12. 4. 2013
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