16
I
Ein Rechtsschutzinteresse an der Anfechtungsklage besteht
nur noch, wenn die Nichtigerkla¨rung der Wahlbeschlu¨sse Aus-
wirkungen auf die Rechtsbeziehungen der Gesellschaft, der Ak-
tiona¨re, der Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats ha-
ben kann. Solche Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen der
Gesellschaft kann die Nichtigerkla¨rung haben, wenn die Mitwir-
kung der ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieder fu¨r das Zu-
standekommen eines Aufsichtsratsbeschlusses, die Ablehnung
eines Beschlussantrags oder die Beschlussfa¨higkeit des Auf-
sichtsrats ursa¨chlich war. Die Darlegungslast dafu¨r tra¨gt nach
den Grundsa¨tzen der sekunda¨ren Darlegungslast die Beklagte,
sodass der Kla¨ger keine weiteren Einzelheiten zu den Aufsichts-
ratssitzungen vortragen musste.
Auswirkungen der Nichtigerkla¨rung oder Nichtigkeitsfeststel-
lung eines Wahlbeschlusses
17
I
a)
Die Nichtigerkla¨rung oder Nichtigkeitsfeststellung eines
Wahlbeschlusses hat grundsa¨tzlich Auswirkungen auf die
Rechtsbeziehungen der Gesellschaft und der Mitglieder des
Aufsichtsrats, wenn die Beschlussfa¨higkeit oder das Zustande-
kommen eines Aufsichtsratsbeschlusses von der Stimme eines
Aufsichtsrats abha¨ngt, dessen Wahl nichtig ist oder fu¨r nichtig
erkla¨rt wird. Ein Aufsichtsratsbeschluss ist nicht mit der erfor-
derlichen Mehrheit gefasst, wenn Nichtmitglieder mitgestimmt
haben und ihre Stimmen fu¨r die Beschlussfassung oder die Ab-
lehnung eines Beschlussantrags ursa¨chlich geworden sind
10
.
Nicht Mitglied des Aufsichtsrats ist nicht nur das nichtig ge-
wa¨hlte Aufsichtsratsmitglied, sondern auch das Aufsichtsrats-
mitglied, dessen Wahl erfolgreich angefochten wird.
18
I
aa)
Die Auswirkung der Nichtigkeit oder der Nichtigerkla¨-
rung der Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds auf die Beschluss-
fa¨higkeit des Aufsichtsrats und die rechtliche Wirksamkeit der
Stimmabgabe ist streitig. Teilweise wird aufgrund der Lehre
vom faktischen Organ das nichtig oder anfechtbar bestellte Auf-
sichtsratsmitglied auch fu¨r die Stimmabgabe wie ein wirksam
bestelltes Organmitglied behandelt
11
. Andere behandeln dage-
gen das nichtig oder anfechtbar gewa¨hlte Aufsichtsratsmitglied
wie einen Dritten
12
oder unterscheiden zwischen Nichtigkeit
und Anfechtbarkeit der Wahl
13
.
19
I
bb)
Der Senat hat die Beschlu¨sse eines Aufsichtsrats, dessen
Mitglieder alle nichtig gewa¨hlt worden waren, fu¨r nichtig erach-
tet
14
. Andere Entscheidungen betreffen die Mitwirkung von
Aufsichtsratsmitgliedern, deren Amtszeit abgelaufen war
15
. Fu¨r
Pflichten, Haftung und Vergu¨tung ist anerkannt, dass die
Grundsa¨tze der fehlerhaften Bestellung auf den Aufsichtsrat an-
wendbar sind
16
.
20
I
Stimmabgabe eines Aufsichtsratsmitglieds, dessen Wahl
nichtig ist oder fu¨r nichtig erkla¨rt wird, ist wie die Stimmabga-
be eines Nichtmitglieds zu behandeln
cc)
Das Aufsichtsratsmitglied, dessen Wahl nichtig ist oder fu¨r
nichtig erkla¨rt wird, ist fu¨r die Stimmabgabe und Beschlussfas-
sung wie ein Nichtmitglied zu behandeln. Wu¨rde der nichtig
oder anfechtbar gewa¨hlte Aufsichtsrat in allen Fa¨llen wie ein
wirksam bestelltes Organ behandelt, wirkte eine erfolgreiche
Wahlanfechtung insgesamt nur ex nunc; auch die Nichtigkeit
eines Wahlbeschlusses wu¨rde erst ab gerichtlicher Feststellung
Wirkungen entfalten. Das la¨sst sich mit § 250 Abs. 1 AktG,
wonach Wahlbeschlu¨sse von Anfang an nichtig sein ko¨nnen,
und mit der Verweisung in § 250 Abs. 1 AktG auf § 241 Nr. 5
AktG, wonach der Wahlbeschluss ex tunc nichtig ist, wenn er
fu¨r nichtig erkla¨rt wird, nicht in Einklang bringen.
Auswirkung der Nichtigkeit eines Wahlbeschlusses auf Auf-
sichtsratsbeschlu¨sse
21
I
Sofern die Stimmen der als Nichtmitglieder zu behandeln-
den Aufsichtsra¨te fu¨r die Beschlussfassung oder die Ablehnung
eines Beschlussantrags ursa¨chlich geworden sind, ist ein entspre-
chender Beschluss nicht gefasst oder kommt sogar eine Umkeh-
rung des Beschlussergebnisses infrage. Der Beschluss muss nicht
so behandelt werden, als sei er ordnungsgema¨ß gefasst worden.
Der Zweck der Gleichbehandlung der fehlerhaften mit der ord-
nungsgema¨ßen Bestellung eines Organs, das Vertrauen unbetei-
ligter Dritter zu schu¨tzen und den Schwierigkeiten bei einer
Ru¨ckabwicklung von Dauerschuldverha¨ltnissen zu begegnen, be-
trifft Aufsichtsratsbeschlu¨sse nicht in jedem Fall. Soweit eine
Ru¨ckabwicklung den berechtigten Interessen der Beteiligten wi-
dersprechen wu¨rde, ist dem im Einzelfall zu begegnen.
Schutz von Dritten beim Vollzug nichtiger Aufsichtsrats-
beschlu¨sse
22
I
(1)
Soweit Aufsichtsratsbeschlu¨sse gegenu¨ber außenstehen-
den Dritten vollzogen werden, sind Dritte, die die Nichtigkeit
eines Beschlusses nicht kennen oder kennen mu¨ssen, bereits da-
durch geschu¨tzt, dass sie auf die Handlungsbefugnis desjenigen,
der die Aufsichtsratsbeschlu¨sse vollzieht, vertrauen du¨rfen
17
.
Zum Schutzbedu¨rfnis von Organmitgliedern
23
I
(2)
Organmitglieder, die die Nichtigkeit kennen oder ken-
nen mu¨ssen, sind dagegen nicht schutzwu¨rdig, jedenfalls nicht
u¨ber die Aufdeckung der Nichtigkeit der Wahl hinaus. Mit der
Gleichstellung von nichtig gewa¨hlten Aufsichtsra¨ten mit ord-
nungsgema¨ß gewa¨hlten Organen wu¨rden andere Organe im Ge-
genteil daran gehindert, sich auf die Unwirksamkeit von Be-
schlu¨ssen des Aufsichtsrats zu berufen, obwohl sie daran gerade
ein Interesse haben ko¨nnen oder sogar rechtlich dazu verpflichtet
sind, die Unwirksamkeit der Aufsichtsratsbeschlu¨sse geltend
zu machen. Der Vorstand, zu dessen Aufgaben geho¨rt, die Ta¨-
tigkeit eines nichtig gewa¨hlten Aufsichtsrats zu verhindern,
ko¨nnte etwa daran gehindert werden, wenn ihn der nichtig ge-
wa¨hlte Aufsichtsrat abberufen ko¨nnte, ohne dass er dem die
Nichtigkeit der Wahl entgegenhalten kann. Auch ein Aufsichts-
ratsmitglied kann ein Interesse an der Feststellung haben, dass
ein Beschluss – auch schon vor seiner Amtszeit – nicht wirksam
10 Vgl. BGH-Urteil vom 17. 4. 1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47 S. 341 (346) = DB
1967 S. 1032.
11
Bayer/Lieder
, NZG 2012 S. 1 (6);
Schu¨rnbrand
, NZG 2008 S. 609 (610);
Schu¨rnbrand
, Organschaft im Recht der privaten Verba¨nde, 2007, S. 288 f.;
Happ
, in: FS Hu¨ffer, 2010, S. 293 (305);
Habersack
, in: Mu¨nchKomm-AktG,
3. Aufl., § 101 Rdn. 70;
Drygala
, in: Karsten Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl.,
§ 101 Rdn. 36 f.;
Spindler
, in: Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., § 101 Rdn. 112;
Hu¨ffer
, a.a.O. (Fn. 1), § 101 Rdn. 18; vgl. auch OLG Frankfurt/M., Beschluss
vom 2. 11. 2010 – 20 W 362/10, ZIP 2011 S. 24 (27).
12 OLG Ko¨ln, Urteil vom 28. 2. 2008 – 18 U 3/08, ZIP 2008 S. 1767 (1768);
E. Vetter
, ZIP 2012 S. 701 (707 f.);
Karsten Schmidt
, in: Großkomm-AktG,
4. Aufl., § 252 Rdn. 12;
Stilz
, a.a.O. (Fn. 8), § 252 Rdn. 6;
Hu¨ffer
, in: Mu¨nch-
Komm-AktG, 3. Aufl., § 250 Rdn. 21;
Mertens/Cahn
, in: Ko¨lnKomm-AktG, 3.
Aufl., § 101 Rdn. 111 und § 108 Rdn. 93;
Simons
, in: Ho¨lters, AktG, § 101
Rdn. 51;
Israel
, in: Bu¨rgers, AktG, 2. Aufl., § 101 Rdn. 3;
Breuer/Frame
, in:
Heidel, AktG, 3. Aufl., § 101 Rdn. 24; differenzierend zu den Auswirkungen
Marsch-Barner
, a.a.O. (Fn. 1), S. 1109 (1123).
13
Roth
, in: Hopt, Großkomm-AktG, 4. Aufl., § 101 Rdn. 217, 228.
14 BGH-Urteil vom 16. 12. 1953 – II ZR 167/52, BGHZ 11 S. 231 (246) = DB
1954 S. 39; vgl. auch vom 4. 7. 1994 – II ZR 114/93, DB 1994 S. 1769 = ZIP
1994 S. 1171 (1172).
15 BGH-Urteil vom 24. 2. 1954 – II ZR 63/53, BGHZ 11 S. 327 (331); vom 17. 4.
1967 – II ZR 157/64, BGHZ 47 S. 341 (346) = DB 1967 S. 1032.
16 BGH-Urteil vom 3. 7. 2006 – II ZR 151/04, BGHZ 168 S. 188 = DB 2006
S. 1834, Rdn. 14.
17 Vgl. etwa
E. Vetter
, ZIP 2012 S. 701 (710).
808
Wirtschaftsrecht
DER BETRIEB | Nr. 15 | 12. 4. 2013
1...,50,51,52,53,54,55,56,57,58,59 61,62,63,64,65,66,67,68,69,70,...94