23
I
a)
Das LAG hat gemeint, die Beklagte habe schon keine
ausreichenden Tatsachen vorgetragen, die es erforderlich ge-
macht ha¨tten, die Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1
KSchG zu widerlegen.
Auch im Rahmen dieser Vorschrift sei der Arbeitgeber gehalten, auf
einfaches Bestreiten des Arbeitnehmers hin die Tatsachen, die zum
Wegfall des Bescha¨ftigungsbedu¨rfnisses fu¨hren sollen, wahrheitsgema¨ß
vorzutragen. Bestehe die Betriebsa¨nderung in einem Personalabbau,
mu¨sse der Arbeitgeber – sofern der Interessenausgleich keine entspre-
chenden Angaben enthalte – das zugrunde liegende unternehmerische
Konzept und dessen Umsetzung einschließlich der sich hieraus ergeben-
den Auswirkungen auf die konkreten Einsatzmo¨glichkeiten des Arbeit-
nehmers in den erforderlichen Einzelheiten darlegen. Komme der Ar-
beitgeber seiner dahingehenden Verpflichtung nicht nach, obwohl der
Arbeitnehmer keine eigene Kenntnis von den zur Ku¨ndigung fu¨hrenden
Umsta¨nden habe, sei die Ku¨ndigung ohne Weiteres als sozial unge-
rechtfertigt anzusehen. Das u¨berzeugt nicht.
24
I
b)
Die Wu¨rdigung des LAG wird der Vermutungswirkung
des Interessenausgleichs und der sich daraus ergebenden Vertei-
lung der Darlegungs- und Beweislast nicht gerecht.
25
I
aa)
Liegen – wie im Streitfall – die Voraussetzungen des § 1
Abs. 5 Satz 1 KSchGvor, wird gem. § 292 ZPOdie rechtliche Fol-
ge – das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse i. S. des
§ 1Abs. 2 Satz 1 KSchG– ohne weiteren Vortrag des Arbeitgebers
gesetzlich vermutet. Diese Vermutung bezieht sich sowohl auf den
Wegfall der bisherigen Bescha¨ftigung als auch auf das Fehlen an-
derer Bescha¨ftigungsmo¨glichkeiten im Betrieb
2
.
. . . eine Widerlegung kann dann nur durch Beweis des Gegen-
teils erfolgen – Hierzu ist Vortrag erforderlich, der die Ver-
mutung nicht nur erschu¨ttert, sondern ausschließt
26
I
bb)
Nach § 292 ZPO ist (
nur
) der Beweis des Gegenteils zu-
la¨ssig. Es ist deshalb Sache des Arbeitnehmers darzulegen und
im Bestreitensfall zu beweisen, dass in Wirklichkeit eine Be-
scha¨ftigungsmo¨glichkeit fu¨r ihn weiterhin besteht. Eine bloße
Erschu¨tterung der Vermutung reicht nicht aus. Es ist vielmehr
ein substantiierter Tatsachenvortrag erforderlich, der den gesetz-
lich vermuteten Umstand nicht nur in Zweifel zieht, sondern
ausschließt
3
. Der Arbeitnehmer muss darlegen, weshalb der Ar-
beitsplatz trotz der Betriebsa¨nderung noch vorhanden ist oder
wo sonst im Betrieb oder Unternehmen er weiterbescha¨ftigt wer-
den kann
4
.
27
I
cc)
Die von der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG abwei-
chende Verteilung der Darlegungs- und Beweislast tra¨gt dem ge-
setzgeberischenAnliegen Rechnung, betriebsbedingte Ku¨ndigun-
gen in Fa¨llen, in denen eine gro¨ßere Anzahl von Arbeitnehmern
betroffen ist, rechtssicherer zu gestalten
5
. Dies stellt keinen unzu-
la¨ssigen Eingriff in verfassungsrechtlich geschu¨tzte Rechtspositio-
nen des Arbeitnehmers dar
6
. Die Vermutung der Betriebsbedingt-
heit der Ku¨ndigung knu¨pft an Regelungen an, die der Mitwirkung
des Betriebsrats bedu¨rfen und die nicht durch eine Einigungsstelle
erzwungen werden ko¨nnen. Der Gesetzgeber durfte bei dieser
Sachlage davon ausgehen, dass eine hohe Richtigkeitsgewa¨hr fu¨r
die betriebsbedingte Notwendigkeit der Ku¨ndigungen besteht
und die Interessen der Belegschaft typischerweise angemessen
durch die Beteiligung des Betriebsrats gewahrt sind
7
.
Dabei ko¨nnen Grundsa¨tze der abgestuften Darlegungs- und
Beweislast heranzuziehen sein
28
I
dd)
Dem Arbeitnehmer ko¨nnen bei der Fu¨hrung des Ge-
genbeweises gewisse Erleichterungen nach den Regeln der abge-
stuften Darlegungs- und Beweislast zugutekommen
8
. Es ent-
spricht allgemeinen zivilprozessualen Grundsa¨tzen, dass die Ge-
genseite eine – sekunda¨re – Behauptungslast trifft, wenn die pri-
ma¨r darlegungs- und beweisbelastete Partei außerhalb eines fu¨r
ihren Anspruch erheblichen Geschehensablaufs steht, wa¨hrend
die Gegenseite alle erforderlichen Tatsachen kennt und es ihr
zumutbar ist, na¨here Angaben zu machen
9
. Im Rahmen von § 1
Abs. 5 Satz 1 KSchG ist zudem zu beru¨cksichtigen, dass es um
Eingriffe in grundrechtlich geschu¨tzte Rechtspositionen des Ar-
beitnehmers (
Art. 12 Abs. 1 GG
) geht. Diesem Schutz ist nicht
nur in materiell-rechtlicher Hinsicht, sondern auch bei der Aus-
gestaltung des Verfahrens angemessen Rechnung zu tragen
10
.
Dabei hat der Arbeitnehmer zuna¨chst alle verfu¨gbaren Informa-
tionsmo¨glichkeiten auszuscho¨pfen
29
I
ee)
Welche Anforderungen an ein erstes, die sekunda¨re Be-
hauptungslast des Arbeitgebers auslo¨sendes Vorbringen des Ar-
beitnehmers zu stellen sind, la¨sst sich nicht fu¨r alle Fa¨lle im Vo-
raus abstrakt festlegen. Sie richten sich vielmehr nach der kon-
kreten Kenntnis und Kenntnismo¨glichkeit des Arbeitnehmers.
30
I
(1)
Grundsa¨tzlich kann von diesem verlangt werden, (
zumin-
dest
) greifbare Anhaltspunkte zu benennen, aus denen sich die Un-
richtigkeit der nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG vermuteten Tatsache
ergeben soll
11
. Im Regelfall wird schon der Vortrag des Arbeit-
gebers zum Vorliegen einer Betriebsa¨nderung i. S. des § 111
BetrVG dem Arbeitnehmer gewisse Aufkla¨rung daru¨ber geben,
aus welchen Gru¨nden der Bescha¨ftigungsbedarf entfallen sein soll.
Daran kann dieser ansetzen und ggf. eigene Nachforschungen an-
stellen
12
. Hat eine Partei keinen Einblick in die Geschehensabla¨u-
fe und ist ihr deshalb die Beweisfu¨hrung erschwert, kann sie auch
solche Umsta¨nde unter Beweis stellen, die sie aufgrund greifbarer
Anhaltspunkte nur vermuten kann. Zu einem unzula¨ssigen Aus-
forschungsbeweis wird ihr Beweisantrag unter solchenUmsta¨nden
erst dann, wenn sie, ohne wenigstens greifbare Anhaltspunkte fu¨r
das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts aufzuzeigen, Be-
hauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt
13
.
Der zur Fu¨hrung des Gegenbeweises verpflichtete Arbeitnehmer
muss deshalb die ihm zur Verfu¨gung stehenden Informations-
mo¨glichkeiten, zu denen eine Nachfrage beimBetriebsrat geho¨ren
kann
14
, tatsa¨chlich ausscho¨pfen und sich auf dieser Grundlage zu
der vermuteten Betriebsbedingtheit der Ku¨ndigung erkla¨ren . . .
(wird ausgefu¨hrt).
2 Vgl. BAG vom 15. 12. 2011 – 2 AZR 42/10, Rdn. 24, m. w. N., DB 2012
S. 1445 = AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 21.
3 BAG vom 5. 11. 2009 – 2 AZR 676/08, Rdn. 17, DB0348960 = AP KSchG 1969
§ 1 Betriebsbedingte Ku¨ndigung Nr. 183; vom 23. 10. 2008 – 2 AZR 163/07,
Rdn. 37, DB 2009 S. 1248.
4 Vgl. BAG vom 12. 3. 2009 – 2 AZR 418/07, Rdn. 24, m. w. N., DB 2009
S. 293 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 17.
5 Vgl. ErfK/
Oetker
, 13. Aufl. § 1 KSchG Rdn. 365; HaKo/
Gallner/Mestwerdt
,
4. Aufl., § 1 KSchG, Rdn. 685; KR/
Griebeling
, 10. Aufl., § 1 KSchG, Rdn. 703l
ff.; mit gew. Einschr. auch APS/
Kiel
, 4. Aufl., § 1 KSchG, Rdn. 810.
6 BAG vom 6. 9. 2007 – 2 AZR 715/06, Rdn. 20 (37), BAGE 124 S. 48 = DB
2008 S. 640; vom 5. 12. 2002 – 2 AZR 571/01, BAGE 104 S. 131 = DB 2003
S. 1334.
7 Vgl. LAG Niedersachsen vom 30. 6. 2006 – 10 Sa 1816/05, LAGE KSchG § 1
Soziale Auswahl Nr. 52.
8 BAG vom 5. 11. 2009, a.a.O. (Fn. 3); vom 12. 3. 2009, a.a.O. (Fn. 4),
Rdn. 23.
9 Vgl. BAG vom 26. 6. 2008 – 2 AZR 264/07, Rdn. 28, m. w. N., BAGE 127
S. 102 = DB 2008 S. 2311; BGH vom 24. 11. 1998 – VI ZR 388/97,
DB0050544 = NJW 1999 S. 714.
10 Vgl. BVerfG vom 6. 10. 1999 – 1 BvR 2110/93, AP GG Art. 12 Nr. 112.
11 Vgl.
Bram
, in:
Bader/Bram
, Stand Dezember 2012, § 1 KSchG, Rdn. 340b.
12 Vgl. ErfK/
Oetker
, a.a.O. (Fn. 5); HaKo/
Gallner/Mestwerdt
, a.a.O. (Fn. 5);
Eylert
, in: Schwarze/Eylert/Schrader, KSchG § 1, Rdn. 540.
13 Vgl. BAG vom 18. 9. 2008 – 2 AZR 1039/06, Rdn. 33, DB 2009 S. 964; BGH
vom 15. 5. 2003 – III ZR 7/02, BGHReport 2003 S. 891 = DB0048946.
14 Vgl.
Eylert/Schinz
, AE 2004 S. 219 (227).
DER BETRIEB | Nr. 16 | 19. 4. 2013
Arbeitsrecht
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