Prof. Dr. Axel v. Werder / Jenny Bartz, beide Berlin
Corporate Governance Report 2013: Abwei-
chungskultur und Unabha¨ngigkeit im Lichte der
Akzeptanz und Anwendung des aktuellen DCGK
u
DB0588259
I. Einleitung
Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) hat im
letzten Jahr eine Reihe von Modifikationen erfahren, die sich in
ihrem wesentlichen Kern zwei Themenkomplexen zuordnen las-
sen und sowohl das prinzipielle Regulierungsregime des Kodex
als auch seine inhaltliche Substanz betreffen
1
. Die regimebezo-
genen A¨ nderungen knu¨pfen an das
comply or explain
-Prinzip an,
wonach die Gesellschaften von Kodexempfehlungen durchaus
(unter Angabe einer Begru¨ndung) abweichen ko¨nnen
2
. Da in
Literatur und Unternehmenspraxis gleichwohl nicht selten ein
faktischer Befolgungszwang moniert wird
3
, hat die Regierungs-
kommission in der Pra¨ambel klargestellt, dass „[e]ine gut be-
gru¨ndete Abweichung von einer Kodexempfehlung [..] im Inte-
resse einer guten Unternehmensfu¨hrung liegen“ kann (Pra¨ambel
Abs. 11 Satz 4). Damit wird der Gedanke einer „sinnvollen Ab-
weichungskultur“
4
im Kodex ausdru¨cklich verankert. Daru¨ber
hinaus sind im Rahmen der Kodexu¨berarbeitung fu¨nf Anregun-
gen zu Empfehlungen hochgestuft und damit in den Geltungs-
bereich der Erkla¨rungspflicht nach § 161 AktG u¨berfu¨hrt wor-
den. Beide Anpassungen des Kodex ko¨nnen aus Regulierungs-
sicht zwei interessante gegenla¨ufige Effekte fu¨r die Kodexakzep-
tanz nach sich ziehen. Auf der einen Seite erscheint es nicht un-
plausibel, dass die explizite Betonung der „Abweichungskultur“
eine generelle Absenkung der bisher insgesamt hohen Befol-
gungsquoten des Kodex
5
bewirkt. Andererseits ko¨nnten ange-
sichts der systematisch geringeren Befolgung von Anregungen
6
die vorgenommenen Hochstufungen zu einem Anstieg des Ak-
zeptanzniveaus der betreffenden Bestimmungen fu¨hren. Vor
diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Kodexstudie des
Berlin Center of Corporate Governance (BCCG) in einem ers-
ten Schwerpunkt die Akzeptanz aller Empfehlungen und Anre-
gungen des DCGK. Neben der Gewinnung aktueller Daten
u¨ber die Kodexbefolgung soll damit eine empirische Basis ge-
schaffen werden, um die tatsa¨chliche Existenz und eventuelle
Sta¨rke der beiden mo¨glichen Effekte abscha¨tzen zu ko¨nnen.
In Hinblick auf die materiellen A¨ nderungen des Kodex im
letzten Jahr ist vor allem die Erweiterung der Bestimmungen zur
Unabha¨ngigkeit von Mitgliedern des Aufsichtsrats (AR) hervor-
zuheben. In diesem Zusammenhang sind u. a. die neuen Emp-
fehlungen an den AR aufgenommen worden, konkrete Ziele fu¨r
die Anzahl seiner unabha¨ngigen Mitglieder zu benennen
(Tz. 5.4.1 Abs. 2 Satz 1 DCGK) und bei Wahlvorschla¨gen an
die Hauptversammlung (HV) die perso¨nlichen und gescha¨ftli-
chen Beziehungen eines jeden Kandidaten zum Unternehmen,
zu den Organen der Gesellschaft und einem wesentlich an der
Gesellschaft beteiligten Aktiona¨r offenzulegen (Tz. 5.4.1 Abs. 4
DCGK)
7
. Die unabha¨ngigkeitsbezogenen Bestimmungen des
Kodex sind infolge der Verwendung etlicher unbestimmter Be-
griffe insgesamt in hohem Maße interpretationsbedu¨rftig und
ero¨ffnen zudem mitunter auch explizite Gestaltungsoptionen fu¨r
den AR
8
. Der zweite Schwerpunkt des Beitrags erweitert daher
die Akzeptanzbetrachtung um eine Untersuchung der tatsa¨ch-
lichen Anwendung der betreffenden Kodexbestimmungen
9
. Im
Mittelpunkt steht hier die Frage, wie die Unternehmen ihre Er-
messensspielra¨ume im Detail nutzen und ob bestimmte Modali-
ta¨ten der Umsetzung ggf. schon als
best practice
gelten du¨rfen.
Im Weiteren erfolgt zuna¨chst eine kurze Einfu¨hrung in die
Konzeption der vorliegenden Studie, die wiederum im Auftrag
der Regierungskommission durchgefu¨hrt worden ist
(Abschn. II.). Anschließend werden die Befunde zur erkla¨rten
Akzeptanz aller Empfehlungen und Anregungen pra¨sentiert und
analysiert (Abschn. III. 1.). In diesem Zusammenhang wird
auch untersucht, ob und wenn ja, welche Akzeptanzeffekte der
Abweichungskultur sich abzeichnen. Sodann werden die Erhe-
bungsergebnisse zur tatsa¨chlichen Anwendung wichtiger Kodex-
regelungen fu¨r die Unabha¨ngigkeit von AR-Mitgliedern dar-
gestellt und auf eventuelle Anwendungsmuster hin ausgewertet
(Abschn. III. 2.). Ein zusammenfassendes Fazit der Unter-
suchungsresultate (Abschn. IV.) rundet den Beitrag ab.
II. Konzeption der Studie
1. Erhebungsmethodik
Der Fragebogen fu¨r den Corporate Governance Report 2013 wur-
de auf der Grundlage der aktuellen Kodexfassung vom 15. 5. 2012
entwickelt und entha¨lt neben der Abfrage allgemeiner Informatio-
nen zumUnternehmen zwei aufeinander abgestimmte Kategorien
von Fragestellungen. Die Teilnehmer wurden zum einen gebeten,
fu¨r jede einzelne Empfehlung und Anregung des Kodex anzuge-
ben, ob das Unternehmen der jeweiligen Kodexnorm bereits ent-
Prof. Dr. Axel v. Werder
ist Inhaber des Lehrstuhls fu¨r Betriebswirt-
schaftslehre – Organisation und Unternehmensfu¨hrung an der Tech-
nischen Universita¨t Berlin.
Dipl.-Kffr. Jenny Bartz (geb. Bo¨hme)
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl fu¨r Betriebswirt-
schaftslehre – Organisation und Unternehmensfu¨hrung an der Tech-
nischen Universita¨t Berlin.
1 Siehe zu den im Zuge der Kodexrevision vom 15. 5. 2012 vorgenommenen
Vera¨nderungen im Einzelnen
v. Werder/Bartz
, DB 2012 S. 1733;
Ringleb/Kre-
mer/Lutter/v. Werder
, NZG 2012 S. 1081.
2 Siehe § 161 Abs. 1 Satz 1 AktG.
3 Vgl.
Hu¨ffer
, AktG, 10. Aufl. 2012, § 161 Rdn. 4;
Hoffmann-Becking
, in: FS
Hu¨ffer 2010, S. 353;
ders
., ZIP 2011 S. 1173 (1173 f.);
Wernsmann/Gatzka
,
NZG 2011 S. 1001 (1006).
4 So
Mu¨ller
auf der 10. Konferenz DCGK am 30. 6. 2011 (abrufbar unter:
. Siehe auch
v. Werder
, DB 2011 Stand-
punkte S. 49 (50), sowie bereits
v. Werder/Talaulicar
, DB 2005 S. 841 (846).
5 Siehe hierzu
v. Werder/Talaulicar
, DB 2010 S. 853 m. w. N. zu den fru¨heren
Akzeptanzstudien des BCCG.
6 Siehe
v. Werder/Talaulicar
, DB 2010 S. 853 (861).
7 Siehe hierzu und zu den weiteren einschla¨gigen A¨ nderungen na¨her
Abschn. III. 2. m. N.
8 Hierzu eingehender
Kremer/v. Werder
, AG 2013 S. 340.
9 Zur Differenzierung zwischen erkla¨rter Akzeptanz und tatsa¨chlicher Anwen-
dung na¨her
v. Werder/Bartz
, DB 2011 S. 1285 und S. 1345.
DER BETRIEB | Nr. 17 | 26. 4. 2013
Betriebswirtschaft
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