Entscheidungen
Einkommensteuer
Abgrenzung von Gewerbebetrieb und privater Ver-
mo¨gensverwaltung bei Vermo¨gensanlage in auf
dem Zweitmarkt erworbene Lebensversicherungen
Erwerb und Halten gebrauchter Lebensversicherungen – Krite-
rien zur Abgrenzung gewerblicher Ta¨tigkeiten von Vermo¨gens-
verwaltung
EStG § 15 Abs. 2
Erwirbt eine Anlagegesellschaft auf dem US-amerikanischen
Zweitmarkt „gebrauchte“ Lebensversicherungen, um die Ver-
sicherungssummen bei Fa¨lligkeit einzuziehen, ergibt sich ein
ausreichendes Indiz fu¨r die Qualifikation der Ta¨tigkeit als Ge-
werbebetrieb weder allein aus dem Anlagevolumen oder dem
Umfang der geta¨tigten Rechtsgescha¨fte noch aus der Einschal-
tung eines Vermittlers.
BFH-Urteil vom 11. 10. 2012 – IV R 32/10
u
DB0590477
Redaktioneller Hinweis:
Bearbeitete Urteilslangfassung online: DB0573759.
Ru¨ckwirkende Anwendung des § 46 Abs. 2 Nr. 1
EStG i. d. F. des JStG 2007
EStG i. d. F. des JStG 2007 § 46 Abs. 2 Nr. 1; EStG i. d. F. des
JStG 2008 § 46 Abs. 2 Nr. 8; EStG i. d. F. des StVereinfG 2011
§ 52 Abs. 55j; AO §§ 169 Abs. 2 Nr 2, 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1;
GG Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1
1. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i. d. F. des JStG 2007 ist auch auf Vz.
vor 2006 anzuwenden.
2. Die in § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011
geregelte ru¨ckwirkende Geltungsanordnung der Vorschrift
versto¨ßt nicht gegen das rechtsstaatliche Ru¨ckwirkungsver-
bot.
BFH-Urteil vom 17. 1. 2013 – VI R 32/12
u
DB0585181
Streitig ist, ob fu¨r die Vz. 2002–2004 noch ESt-Veranlagungen durch-
zufu¨hren sind.
Der Kla¨ger erzielte in den Streitjahren Einku¨nfte aus nichtselbststa¨ndiger
Arbeit. Daneben erwirtschaftete er nach den Angaben in seinen ESt-Er-
kla¨rungen, die am28. 12. 2009 beimFA eingingen, U¨ berschu¨sse derWer-
bungskosten u¨ber die Mieteinnahmen aus der langfristigen Vermietung
einer Doppelhausha¨lfte i. H. von 2.833 € (2002), i. H. von 2.348 € (2003)
und i. H. von 2.030 € (2004). Mit Bescheiden vom 18. 2. 2010 lehnte das
FA die Durchfu¨hrung von ESt-Veranlagungen ab, weil fu¨r die Streitjahre
bereits Festsetzungsverja¨hrung eingetreten sei.
Der Klage hat das FG stattgegeben. Die dagegen gerichtete Revision
des FA war erfolgreich.
AUS DEN GRU¨ NDEN
Entscheidung
1 . . . 7
I
I.
. . .
II.
Die Revision des FA ist begru¨ndet. Sie fu¨hrt
zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung
der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO).
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG n. F. gilt ru¨ckwirkend
8
I
1.
Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i. d. F. des JStG 2007 ist
die Amtsveranlagung nur durchzufu¨hren, wenn, was hier nicht
der Fall ist, die positive Summe der einkommensteuerpflichtigen
Einku¨nfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu un-
terwerfen waren, vermindert um die darauf entfallenden Betra¨ge
nach § 13 Abs. 3 und § 24a EStG, mehr als 410 € betra¨gt
1
. § 46
Abs. 2 Nr. 1 EStG i. d. F. des JStG 2007 ist gem. § 52 Abs. 55j
Satz 1 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011 (fru¨her § 52 Abs. 55j
EStG i. d. F. des JStG 2007) auch auf Vz. vor 2006 und damit
die Streitjahre anzuwenden. Wortlaut und Gesetzeszweck der
Vorschriften sind insoweit eindeutig.
Ru¨ckwirkung entspricht Gesetzeszweck
9
I
a)
Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen die bishe-
rige Verwaltungspraxis, nach der eine Pflichtveranlagung zur
ESt bei Bezug von Einku¨nften aus nichtselbststa¨ndiger Arbeit
nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG voraussetzt, dass der Arbeitneh-
mer bzw. die Arbeitnehmerin in dem jeweiligen Vz. Einku¨nfte
aus anderen Einkunftsarten bezieht, deren positive Summe
410 € bzw. 800 DM u¨bersteigt, fortgesetzt wissen
2
. Dies folgt
zum einen aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber den Neu-
regelungen lediglich eine klarstellende Bedeutung beigemessen
hat
3
. Zum anderen macht die ru¨ck(be)wirkende Geltungsanord-
nung deutlich, dass der Gesetzgeber an seiner Lesart der bisheri-
gen Fassung des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht nur zuku¨nftig,
sondern auch fu¨r die Vergangenheit festhalten wollte
4
. Nach der
durch die allgemeinen Regeln der Mathematik unterstu¨tzten
wo¨rtlichen Auslegung der Vorschrift sei eine negative Summe
der Einku¨nfte niedriger als 0 und ko¨nne damit nicht mehr als
410 € bzw. 800 DM betragen
5
.
Ru¨ckwirkung verfassungsrechtlich unbedenklich
10
I
b)
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des Kla¨gers
versto¨ßt diese Auslegung des § 52 Abs. 55j Satz 1 EStG i. d. F.
des StVereinfG 2011 nicht gegen das grds. Verbot ru¨ckwirken-
der belastender Gesetze. Dabei kann der Senat offenlassen, ob
der Gesetzgeber mit der ru¨ckwirkenden Geltungsanordnung des
§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG i. d. F. des JStG 2007 tatsa¨chlich in
einen abgeschlossenen steuerlichen Sachverhalt a¨ndernd einge-
griffen hat. Denn selbst wenn ein solches Verhalten des Gesetz-
gebers vorla¨ge, sind in der Rspr. des BVerfG jedoch – ohne dass
dies abschließend wa¨re – Fallgruppen anerkannt, in denen das
rechtsstaatliche Ru¨ckwirkungsverbot (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit
Art. 20 Abs. 3 GG) durchbrochen ist
6
. So tritt das Ru¨ckwir-
kungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, na-
mentlich dann zuru¨ck, wenn sich kein schu¨tzenswertes Vertrau-
en auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte
7
, etwa
weil die Rechtslage unklar und verworren war
8
oder eine gefes-
tigte Rechtsanwendungspraxis zu einer bestimmten Steuer-
1 Zur fru¨heren Rechtslage s. BFH-Urteil vom 21. 9. 2006 – VI R 47/05, BStBl.
II 2007 S. 47 = DB 2006 S. 2610; VI R 52/04, BStBl. II 2007 S. 45 =
DB0175933.
2
Schmidt/Kulosa
, EStG, 31. Aufl., § 46 Rdn. 12.
3 BR-Drucks. 622/1/06 S. 21 f.; BT-Drucks. 16/3036 S. 22, „Zu Nummer 17“.
4 Vgl.
Paetsch
, in: Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 46 Rdn. 26b.
5 BR-Drucks. 622/1/06 S. 21 f.
6 Vgl. BVerfG-Beschluss vom 14. 5. 1986 – 2 Bvl 2/83, BVerfGE 72 S. 200
(258 ff.) = DB 1986 S. 2314; vom 3. 12. 1997 – 2 BvR 882/97, BVerfGE 97
S. 67 (79 f.) = DB 1998 S. 653; Urteil vom 23. 11. 1999 – 1 BvF 1/94,
BVerfGE 101 S. 239 (263).
7 Vgl. BVerfG vom 23. 11. 1999, a.a.O. (Fn. 6).
8 Vgl. BVerfG-Urteil vom 19. 12. 1961 – 2 BvL 6/59, BVerfGE 13 S. 261 (272).
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Steuerrecht
DER BETRIEB | Nr. 19 | 10. 5. 2013