DER BETRIEB 21 - page 71

Arbeitnehmer auf der anderen Seite erweist. Maßgeblich ist al-
lein die getroffene Regelung als solche. Eine U¨ berschreitung der
Grenzen des Ermessens muss in ihr selbst als Ergebnis des Ab-
wa¨gungsvorgangs liegen. Auf die von der Einigungsstelle ange-
stellten Erwa¨gungen kommt es nicht an. Die Frage, ob die der
Einigungsstelle gezogenen Grenzen des Ermessens eingehalten
sind, unterliegt der uneingeschra¨nkten U¨ berpru¨fung durch das
Rechtsbeschwerdegericht. Es geht um die Wirksamkeit einer
kollektiven Regelung, die von der Wahrung des der Einigungs-
stelle eingera¨umten Gestaltungsrahmens abha¨ngig ist. Insoweit
gilt nichts anderes als fu¨r die gerichtliche Kontrolle von Betriebs-
vereinbarungen
1
.
Die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Entscheidung der Eini-
gungsstelle (u¨ber den Sozialplan) stellt fu¨r sie eine Grenze der
Ermessensausu¨bung dar
16
I
3.
Die Einigungsstelle hat nach § 112 Abs. 5 Satz 1 BetrVG
bei ihrer Entscheidung u¨ber einen Sozialplan sowohl die sozialen
Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu beru¨cksichtigen als
auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung
fu¨r das Unternehmen zu achten. Im Rahmen billigen Ermessens
muss sie unter Beru¨cksichtigung der Gegebenheiten des Einzel-
falls Leistungen zum Ausgleich oder der Milderung wirtschaftli-
cher Nachteile vorsehen, dabei die Aussichten der betroffenen
Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt beru¨cksichtigen und bei
der Bemessung des Gesamtbetrags der Sozialplanleistungen da-
rauf achten, dass der Fortbestand des Unternehmens oder die
nach der Durchfu¨hrung der Betriebsa¨nderung verbleibenden Ar-
beitspla¨tze nicht gefa¨hrdet werden (§ 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1
bis Nr. 3 BetrVG). Der Ausgleichs- und Milderungsbedarf der
Arbeitnehmer bemisst sich nach den ihnen entstehenden Nach-
teilen. Der wirtschaftlichen Vertretbarkeit kommt dabei eine
Korrekturfunktion zu. Die Einigungsstelle hat von dem von ihr
vorgesehenen Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile abzuse-
hen, wenn dieser den Fortbestand des Unternehmens gefa¨hrden
wu¨rde. Die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung
stellt damit fu¨r sie eine Grenze der Ermessensausu¨bung dar
2
. Ist
der fu¨r angemessen erachtete Ausgleich von Nachteilen der Ar-
beitnehmer fu¨r das Unternehmen wirtschaftlich nicht vertretbar,
ist das Sozialplanvolumen bis zum Erreichen der Grenze der
wirtschaftlichen Vertretbarkeit zu mindern. Die gebotene Ru¨ck-
sichtnahme auf die wirtschaftlichen Verha¨ltnisse des Unterneh-
mens kann die Einigungsstelle sogar zum Unterschreiten der aus
§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG folgenden Untergrenze des Sozial-
plans zwingen. Erweist sich auch eine noch substanzielle Mil-
derung der mit der Betriebsa¨nderung verbundenen Nachteile als
fu¨r das Unternehmen wirtschaftlich unvertretbar, ist es nach
§ 112 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 BetrVG zula¨ssig und gebo-
ten, von einer solchen Milderung abzusehen
3
.
Bei der wirtschaftlichen Vertretbarkeit kommt es nicht auf die
wirtschaftliche Lage des Konzerns an
17
I
4.
Die wirtschaftliche Vertretbarkeit i. S. des § 112 Abs. 5
Satz 1 BetrVG richtet sich grundsa¨tzlich auch dann nach den
wirtschaftlichen Verha¨ltnissen des sozialplanpflichtigen Arbeit-
gebers, wenn das Unternehmen einem Konzern angeho¨rt. Dies
zeigt der eindeutige Wortlaut von § 112 Abs. 5 Satz 1 und
Satz 2 Nr. 3 BetrVG. Nur in Bezug auf Weiterbescha¨ftigungs-
mo¨glichkeiten ist nach § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG eine
konzernbezogene Betrachtung vorzunehmen. Auch die Geset-
zesmaterialien weisen nicht darauf hin, dass anstelle des Unter-
nehmens auf die wirtschaftliche Lage des Konzerns abzustellen
ist
4
.
Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit sind Illiquidita¨t,
bilanzielle U¨ berschuldung oder nicht mehr vertretbare Schma¨-
lerung des Eigenkapitals
18
I
5.
§ 112 Abs. 5 BetrVG bestimmt nicht die Voraussetzun-
gen der wirtschaftlichen Vertretbarkeit eines Sozialplans. Maß-
geblich sind die Gegebenheiten des Einzelfalls. Dabei ist grund-
sa¨tzlich von Bedeutung, ob und welche Einsparungen fu¨r das
Unternehmen mit der Betriebsa¨nderung verbunden sind, deren
nachteilige Auswirkungen auf die Arbeitnehmer der Sozialplan
kompensieren soll. Der Umstand, dass sich ein Unternehmen
bereits in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet, entbindet es
nach den Wertungen des Betriebsverfassungsgesetzes nicht von
der Notwendigkeit, weitere Belastungen durch einen Sozialplan
auf sich zu nehmen. Sogar in der Insolvenz sind Betriebsa¨n-
derungen gem. § 123 InsO sozialplanpflichtig. Bei der Pru¨fung,
wie sehr der Sozialplan das Unternehmen belastet und ob er
mo¨glicherweise dessen Fortbestand gefa¨hrdet, ist sowohl das
Verha¨ltnis von Aktiva und Passiva als auch die Liquidita¨tslage
zu beru¨cksichtigen. Fu¨hrt die Erfu¨llung der Sozialplanverbind-
lichkeiten zu einer Illiquidita¨t, zur bilanziellen U¨ berschuldung
oder zu einer nicht mehr vertretbaren Schma¨lerung des Eigen-
kapitals, ist die Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit regel-
ma¨ßig u¨berschritten
5
. Dies gilt auch, wenn ein Unternehmen
seinen einzigen Betrieb stilllegt. Wie § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2
BetrVG zeigt, unterscheidet das Gesetz ausdru¨cklich zwischen
dem Unternehmen und dem Betrieb. Bei einer vollsta¨ndigen Be-
triebsstilllegung besteht das Unternehmen – als Rechtstra¨ger des
Betriebs – grundsa¨tzlich fort. Allerdings darf in diesem Fall
nicht außer Acht bleiben, dass nach Durchfu¨hrung der Betriebs-
a¨nderung keine Arbeitspla¨tze mehr vorhanden sind, die durch
den Gesamtbetrag der Sozialplanleistungen gefa¨hrdet werden
ko¨nnten.
19
I
6.
Fu¨r die gerichtliche Kontrolle der Sozialplandotierung
durch die Einigungsstelle bedeutet dies, dass der Anfechtende
die U¨ berschreitung einer dieser Ermessensgrenzen dartun muss.
Ficht der Arbeitgeber den Sozialplan wegen mangelnder wirt-
schaftlicher Vertretbarkeit an, hat er entweder darzulegen, dass
dessen Regelungen zu einer U¨ berkompensation der eingetrete-
nen Nachteile fu¨hren und deshalb schon die Obergrenze des
§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verletzen, oder dass sie die Grenze
der wirtschaftlichen Vertretbarkeit fu¨r das Unternehmen u¨ber-
schreiten. Sollte dies mit Blick auf die wirtschaftlichen Verha¨lt-
nisse allein des Arbeitgebers zu bejahen sein, liegt darin aller-
dings nur dann ein Ermessensfehler der Einigungsstelle, wenn
nicht ein Bemessungsdurchgriff auf Konzernobergesellschaften
rechtlich geboten ist
6
.
20
I
7.
Nach diesen Grundsa¨tzen kann den Darlegungen der Ar-
beitgeberin nicht entnommen werden, dass die Einigungsstelle
den ihr zustehenden Ermessensspielraum bei der Festsetzung
des Sozialplanvolumens u¨berschritten hat und dieses wirtschaft-
lich nicht vertretbar ist.
1 BAG vom 15. 3. 2011 – 1 ABR 97/09, Rdn. 16, BAGE 137 S. 203 = DB 2011
S. 1698, m. w. N.
2 BAG vom 15. 3. 2011, a.a.O. (Fn. 1), Rdn. 18.
3 BAG vom 24. 8. 2004 – 1 ABR 23/03, zu B. III. 2. c) cc), BAGE 111 S. 335 =
DB 2005 S. 397.
4 BAG vom 15. 3. 2011, a.a.O. (Fn. 1), Rdn. 20.
5 BAG vom 15. 3. 2011, a.a.O. (Fn. 1), Rdn. 21; vom 6. 5. 2003 – 1 ABR 11/02,
zu B. II. 2. e) cc) (3) und (4), BAGE 106 S. 95 = DB 2004 S. 193.
6 BAG vom 24. 8. 2004, a.a.O. (Fn. 3), zu B. III. 2. c) dd).
DER BETRIEB | Nr. 21 | 24. 5. 2013
Arbeitsrecht
1183
1...,61,62,63,64,65,66,67,68,69,70 72,73,74,75,76,77,78,79,80,81,...86
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