Entscheidungen
Ku¨ndigungsrecht
Massenentlassungsanzeige: Fehlende Stellung-
nahme des Betriebsrats fu¨hrt zur Unwirksamkeit
und zur Nichtigkeit der Ku¨ndigung
Anforderungen an die Stellungnahme – Besonderheiten bei
Integration in Interessenausgleich
KSchG § 1 Abs. 2 Satz 1, § 17 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 und Satz 3;
BGB § 134
1. Wird einer Massenentlassungsanzeige entgegen § 17 Abs. 3
Satz 2 KSchG keine Stellungnahme des Betriebsrats bei-
gefu¨gt und sind auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 3
Satz 3 KSchG nicht erfu¨llt, ist die Anzeige unwirksam.
2. Die Stellungnahme des Betriebsrats muss nicht zwingend in
einem eigensta¨ndigen Schriftstu¨ck niedergelegt sein. Falls
zwischen den Betriebsparteien im Zusammenhang mit den
beabsichtigten Ku¨ndigungen ein Interessenausgleich nach
§§ 111, 112 BetrVG zustande gekommen ist, kann die Stel-
lungnahme in diesen integriert werden. Dazu bedarf es einer
ausdru¨cklichen abschließenden Erkla¨rung, die erkennen
la¨sst, dass sich der Betriebsrat mit den angezeigten Ku¨ndi-
gungen befasst hat.
3. Ist bei Zugang der Ku¨ndigung die Massenentlassung – falls
nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderlich – nicht wirksam ange-
zeigt, hat dies die Nichtigkeit der Ku¨ndigung nach § 134
BGB zur Folge.
(Orientierungssa¨tze der Richterinnen und Richter des BAG)
BAG-Urteil vom 22. 11. 2012 – 2 AZR 371/11
u
DB0589638
Die Parteien streiten u¨ber die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebs-
bedingten Ku¨ndigung.
Der Kla¨ger ist seit 2002 bei der zu einem Konzern geho¨renden Beklag-
ten ta¨tig. Der Konzern bescha¨ftigte im Jahr 2008 u¨ber 2.000 Arbeitneh-
mer, davon ca. 720 – darunter den Kla¨ger – im Bereich „Technical Ope-
rations/Netzinfrastruktur“. Er ist in sechs Regionen aufgeteilt. In jeder
Region ist auf der Grundlage eines zwischen ver.di auf der einen und
der Beklagten sowie zwei weiteren Konzernunternehmen auf der ande-
ren Seite geschlossenen Zuordnungstarifvertrags ein einheitlicher, un-
ternehmensu¨bergreifender Betriebsrat gebildet. Der Kla¨ger ist der Regi-
on zugeordnet, deren Hauptniederlassung in Berlin liegt. Im Jahr 2008
beschloss die Beklagte, die Aufgaben der Servicetechniker zweier Ta¨tig-
keitsbereiche ab dem 1. 7. 2009 im Wesentlichen nicht mehr durch ei-
gene Mitarbeiter ausfu¨hren zu lassen. Dies fu¨hrte zum Wegfall zahlrei-
cher Arbeitspla¨tze. Am 12. 11. 2008 vereinbarten die drei Gesellschaf-
ten mit dem Konzernbetriebsrat einen Interessenausgleich.
Darin heißt es:
„§ 8 Beratungen nach § 17 KSchG
Der KBR wurde im Rahmen des Interessenausgleichsverfahrens vor-
sorglich schriftlich nach § 17 Abs. 2 KSchG u¨ber die Gru¨nde fu¨r die
geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu ent-
lassenden Mitarbeiter, die Zahl und die Berufsgruppen der i. d. R.
bescha¨ftigten Mitarbeiter, den Zeitraum, in dem die Entlassungen
vorgenommen werden sollen, die vorgesehenen Kriterien fu¨r die
Auswahl der zu entlassenden Mitarbeiter, und die fu¨r die Berech-
nung der Abfindungen vorgesehenen Kriterien unterrichtet; die er-
forderlichen Beratungen wurden durchgefu¨hrt. Das Unternehmen
wird erforderlichenfalls einer Anzeige nach § 17 KSchG die Stel-
lungnahme des KBR beifu¨gen.“
Mit Schreiben vom 19. 11. 2008 zeigte die Beklagte die vorgesehene
Entlassung von 49 ihrer insgesamt 75 am Standort Berlin bescha¨ftigten
Mitarbeiter gegenu¨ber der Agentur fu¨r Arbeit an. In dem Formular
kreuzte sie in der Zeile „Die Stellungnahme des Betriebsrates zu den an-
gezeigten Entlassungen ist beigefu¨gt“ das Feld „nein“ an. Mit Schreiben
vom 25. 11. 2008 teilte die Agentur fu¨r Arbeit folgendes mit:
„Ihre Anzeige vom 19. 11. 2008 ist am 19. 11. 2008 in der Agentur
fu¨r Arbeit Berlin Su¨d vollsta¨ndig eingegangen. Gem. § 20 Abs. 1
KSchG habe ich wie folgt entschieden: Die Sperrfrist beginnt am
20. 11. und endet am 19. 12. 2008. Die Entlassungen am 8. 12.
2008 von 49 Arbeitnehmern mit Ablauf der Ku¨ndigungsfristen sind
damit rechtswirksam nach der gesetzlichen Sperrfrist mo¨glich“.
Mit Schreiben vom 9. 12. 2008 ku¨ndigte die Beklagte das Arbeitsver-
ha¨ltnis der Parteien fristgerecht zum 31. 7. 2009.
Das ArbG hat die Klage durch Teilurteil abgewiesen. Das LAG (Ber-
lin-Brandenburg – 9 Sa 562/10) hat die Berufung des Kla¨gers zuru¨ck-
gewiesen. Die Revision war erfolgreich.
AUS DEN GRU¨ NDEN
1 . . . 13
I
I.
Das Arbeitsverha¨ltnis der Parteien ist durch die Ku¨n-
digung der Beklagten vom 9. 12. 2008 nicht aufgelo¨st worden.
Die Beklagte hat keine den gesetzlichen Anforderungen genu¨-
gende Massenentlassungsanzeige erstattet. Der Anzeige war kei-
ne Stellungnahme des zusta¨ndigen Betriebsratsgremiums bei-
gefu¨gt. Die Beklagte hat gegenu¨ber der Agentur fu¨r Arbeit auch
nicht glaubhaft gemacht, dass sie das Gremium mindestens zwei
Wochen vor Erstattung der Anzeige unterrichtet hat, und hat
nicht den Stand der Beratungen dargelegt. Der auf die Anzeige
hin ergangene Bescheid der Agentur fu¨r Arbeit vermochte die-
sen Mangel nicht zu heilen. Der Mangel fu¨hrt zur Unwirksam-
keit der Massenentlassungsanzeige und in deren Folge zur Un-
wirksamkeit der Ku¨ndigung.
14
I
1.
Die Beklagte hat keine wirksame, den Anforderungen des
§ 17 Abs. 3 Satz 2, Satz 3 KSchG genu¨gende Massenentlas-
sungsanzeige erstattet.
15 . . . 18
I
a)
Gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG hat der Arbeitgeber, der
nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verpflichtet ist, der Agentur fu¨r Arbeit
Entlassungen anzuzeigen, der schriftlichen Anzeige die Stellungnahme
des Betriebsrats „zu den Entlassungen“ beizufu¨gen. (wird ausgefu¨hrt)
19
I
b)
Gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ist die Massenentlassungs-
anzeige auch dann wirksam, wenn zwar eine Stellungnahme des Be-
triebsrats nicht vorliegt, der Arbeitgeber aber glaubhaft macht, dass er
diesen mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige unterrich-
tet hat, und er gleichzeitig den Stand der Beratungen darlegt.
Die Beifu¨gung der Stellungnahme des Betriebsrats – ersatzwei-
se das Vorbringen des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 3 Satz 3
KSchG – ist Wirksamkeitsvoraussetzung fu¨r die Massenentlas-
sungsanzeige
20
I
c)
Aus Wortlaut und Systematik der Bestimmung ergibt
sich, dass die Beifu¨gung der Stellungnahme – ersatzweise das
Vorbringen des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG –
Wirksamkeitsvoraussetzung fu¨r die Massenentlassungsanzeige
ist
1
. Kommt der Arbeitgeber weder der Verpflichtung aus § 17
Abs. 3 Satz 2 noch der aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nach, ist
die Massenentlassungsanzeige unwirksam.
21
I
d)
Beiden gesetzlich vorgesehenen Mo¨glichkeiten, die Agen-
tur fu¨r Arbeit u¨ber die erfolgte Konsultation des Betriebsrats zu
unterrichten, hat die Beklagte nicht genu¨gt.
1 So auch BAG vom 28. 6. 2012 – 6 AZR 780/10, Rdn. 52, DB 2012 S. 2166 =
EzA KSchG § 17 Nr. 26; von H/L/
v. Hoyningen-Huene
, 15. Aufl., § 17
Rdn. 88.
DER BETRIEB | Nr. 17 | 26. 4. 2013
Arbeitsrecht
939
1...,57,58,59,60,61,62,63,64,65,66 68,69,70,71,72,73,74,75,76,77,...84