2. Ein Stpfl. kann sich auf den Grundsatz der Neutralita¨t der
MwSt in seiner durch die Rspr. zu Art. 203 MwStSystRL kon-
kretisierten Form berufen, um einer nationalen Regelung
entgegenzutreten, die die Erstattung der fa¨lschlich in Rech-
nung gestellten MwSt von der Berichtigung der fehlerhaften
Rechnung abha¨ngig macht, obwohl das Recht auf Abzug die-
ser Steuer endgu¨ltig versagt wurde und dies zur Folge hat,
dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungs-
regelung nicht mehr anwendbar ist.
EuGH-Urteil vom 11. 4. 2013 – Rs. C-138/12, Rusedespred
u
DB0589618
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Am 15. 8. 2009 stellte Rusedespred der Esi Trade EOOD (im Folgen-
den: Esi Trade) eine Rechnung u¨ber den Verkauf eines Geba¨udes und
dessen Renovierung aus. In dieser Rechnung waren die Preise fu¨r das
Geba¨ude und seine Renovierung, die GrESt und die Eintragungs-
gebu¨hren sowie die MwSt ausgewiesen.
Da der Verkauf dieses Geba¨udes als von der MwSt befreit galt, wurde
die Steuer auf der Grundlage der drei anderen Positionen dieser Rech-
nung, d. h. der Renovierungskosten, der GrESt und der Eintragungs-
gebu¨hren, berechnet.
Im Folgenden fu¨gte Rusedespred die Rechnung ihrer Steuererkla¨rung
fu¨r den betreffenden Zeitraum bei, wa¨hrend Esi Trade von ihrem Recht
auf Abzug der in Rechnung gestellten MwSt Gebrauch machte.
Im Laufe des Jahres 2010 fu¨hrte die Finanzverwaltung bei Esi Trade
eine Steuerpru¨fung durch und versagte ihr mit Steuerpru¨fungsbescheid
vom 18. 6. 2010 das Recht, die in der fraglichen Rechnung ausgewiese-
ne MwSt in Abzug zu bringen. Sie vertrat die Auffassung, dass alle in
Rechnung gestellten Umsa¨tze befreit seien, sodass die Ausweisung von
MwSt in dieser Rechnung nicht gerechtfertigt sei. Dieser Bescheid wur-
de am 4. 4. 2011 bestandskra¨ftig.
Am 9. 5. 2011 stellte Rusedespred bei der Finanzverwaltung einen An-
trag auf Erstattung des zu Unrecht in Rechnung gestellten Betrags. Die
Finanzverwaltung ordnete daraufhin eine U¨ berpru¨fung von Rusede-
spred an und lehnte die beantragte Erstattung mit Steuerpru¨fungs-
bescheid vom 2. 6. 2011 mit der Begru¨ndung ab, dass keine Zahlung
nicht geschuldeter MwSt festzustellen sei. Gem. Art. 85 ZDDS ko¨nne
die MwSt, die in der am 15. 8. 2009 ausgestellten Rechnung ausgewie-
sen sei, von Rusedespred verlangt werden, weil sie die Steuer in dieser
Rechnung angegeben habe.
Nachdem der Direktor den Steuerpru¨fungsbescheid vom 2. 6. 2011 mit
Entscheidung vom 25. 8. 2011 besta¨tigt hatte, erhob Rusedespred Klage
beim Administrativen sad Varna und machte geltend, die Finanzverwal-
tung habe die Erstattung der fu¨r die befreite Lieferung rechtsgrundlos
gezahlten MwSt zu Unrecht abgelehnt, da sie zuvor dem Rechnungs-
empfa¨nger mit bestandskra¨ftigem Steuerpru¨fungsbescheid das Recht auf
Abzug dieser Steuer versagt habe.
Im Ausgangsverfahren trug der Direktor vor, dass die in der fraglichen
Rechnung ausgewiesene Steuer nach Art. 85 ZDDS geschuldet sei.
Meine der Stpfl., ihm sei beim Ausstellen der Rechnung ein Fehler un-
terlaufen, habe er nach Art. 116 ZDDS die Mo¨glichkeit, diesen Fehler
zu korrigieren.
Das vorlegende Gericht fu¨hrt aus, dass im vorliegenden Fall Esi Trade
das Recht auf Abzug der in Rechnung gestellten MwSt mit einem be-
standskra¨ftigen Steuerpru¨fungsbescheid versagt worden sei. Eine Ge-
fa¨hrdung des MwSt-Aufkommens durch das Recht auf Vorsteuerabzug
sei „vollsta¨ndig und unbestreitbar“ ausgeschlossen. Daher verstoße es
gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralita¨t, wenn vom betroffe-
nen Lieferer bzw. Dienstleistenden auf der Grundlage von Art. 85
ZDDS die Zahlung dieser Steuer verlangt werde.
Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Rusedespred entgegen den Aus-
fu¨hrungen der Finanzverwaltung im vorliegenden Fall nicht die Mo¨g-
lichkeit habe, die falsche Rechnung zu berichtigen. Das in Art. 116
ZDDS geregelte Berichtigungsverfahren fu¨r fehlerhaft erstellte Doku-
mente verlange die Annullierung des so erstellten Steuerbelegs. Eine
solche Annullierung der Rechnung sei aber nicht zula¨ssig, da die Liefe-
rung bereits Gegenstand einer Steuerpru¨fung gewesen und dem Emp-
fa¨nger der Lieferung mit einem bestandskra¨ftigen Steuerpru¨fungs-
bescheid der Vorsteuerabzug versagt worden sei.
Unter diesen Umsta¨nden fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Stpfl.
seinen Anspruch auf Erstattung von fa¨lschlich in Rechnung gestellter
MwSt auf die unionsrechtlichen Grundsa¨tze des gemeinsamen MwSt-
Systems stu¨tzen kann. Da der Administrativen sad Varna der Ansicht
ist, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung
des Unionsrechts abha¨ngt, hat er beschlossen, das Verfahren auszuset-
zen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor-
zulegen:
1. Ist eine steuerpflichtige Person nach dem Grundsatz der steuerlichen
Neutralita¨t innerhalb der festgelegten Verja¨hrungsfrist berechtigt, die
Erstattung von fa¨lschlich in Rechnung gestellter und nicht geschulde-
ter MwSt zu verlangen, wenn nach dem nationalen Recht der Umsatz,
fu¨r den sie die Steuer berechnet hat, steuerbefreit ist, die Gefa¨hrdung
des Steueraufkommens beseitigt ist und die im nationalen Gesetz vor-
gesehene Regelung der Berichtigung von Rechnungen nicht anwend-
bar ist?
2. Stehen das gemeinsame MwSt-System sowie die Grundsa¨tze der Neu-
tralita¨t, der Effektivita¨t und der Gleichbehandlung einer auf eine na-
tionale Bestimmung zur Umsetzung von Art. 203 MwStSystRL ge-
stu¨tzten Weigerung einer fu¨r Einnahmen zusta¨ndigen Stelle entgegen,
einer steuerpflichtigen Person die von ihr in einer Rechnung ausgewie-
sene MwSt zu erstatten, wenn diese Steuer, weil es sich um einen steu-
erfreien Umsatz handelt, nicht geschuldet wird, jedoch fa¨lschlich in
Rechnung gestellt, berechnet und gezahlt wurde, sofern bereits dem
Erwerber oder Dienstleistungsempfa¨nger mit einem bestandskra¨ftigen
Steuerpru¨fungsbescheid das Recht auf Vorsteuerabzug in Bezug auf
denselben Umsatz mit der Begru¨ndung versagt wurde, dass der Liefe-
rer oder Dienstleistende die Steuer zu Unrecht berechnet habe?
3. Kann sich die steuerpflichtige Person unmittelbar auf die das gemein-
same MwSt-System beherrschenden Grundsa¨tze, konkret auf die
Grundsa¨tze der steuerlichen Neutralita¨t und der Effektivita¨t berufen,
um einer nationalen Regelung oder deren Anwendung durch die Steu-
erbeho¨rden oder die Gerichte, durch die die genannten Grundsa¨tze
verletzt werden, bzw. einem die genannten Grundsa¨tze verletzenden
Fehlen einer nationalen Regelung entgegenzutreten?
AUS DEN GRU¨ NDEN
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
1 . . . 21
I
Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusam-
men zu pru¨fen sind, mo¨chte das vorlegende Gericht wissen, ob
der Grundsatz der Neutralita¨t der MwSt in seiner durch die
Rspr. zu Art. 203 MwStSystRL konkretisierten Form dahin
auszulegen ist, dass er es der Finanzverwaltung verbietet, dem
Erbringer einer steuerfreien Leistung auf der Grundlage einer
nationalen Rechtsvorschrift zur Umsetzung von Art. 203
MwStSystRL die Erstattung der einem Kunden fa¨lschlich in
Rechnung gestellten MwSt mit der Begru¨ndung zu versagen,
dass er die fehlerhafte Rechnung nicht berichtigt habe, obwohl
dem Kunden das Recht auf Abzug dieser Steuer von der Finanz-
verwaltung endgu¨ltig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass
die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung
nicht mehr anwendbar ist.
In einer Rechnung ausgewiesene Steuer wird grds. vom Rech-
nungsaussteller geschuldet
22
I
Zur Beantwortung dieser Fragen ist erstens darauf hinzuwei-
sen, dass nach Art. 203 MwStSystRL die MwSt von jeder Per-
DER BETRIEB | Nr. 17 | 26. 4. 2013
Steuerrecht
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