DER BETRIEB 21 - page 30

III. Grundzu¨ge des Freizu¨gigkeitsabkommens
Das FZA begru¨ndet im eingeschra¨nkten Umfang die Personen-
verkehrsfreizu¨gigkeit, nicht jedoch die Waren- und Kapitalver-
kehrsfreiheit zwischen der EU und der Schweiz. Die Arbeitneh-
mer-, Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreizu¨gigkeit sind
qualitativ nicht vergleichbar mit den Grundfreiheiten des
AEUV: Das FZA selbst sieht z. T. erhebliche Einschra¨nkungen
im Schutzbereich vor und begu¨nstigt mit wenigen Ausnahmen
nur natu¨rliche Personen
5
.
Eine weitere Besonderheit des FZA wie der meisten bilatera-
len Vertra¨ge ist die grds. statische Natur. Der europa¨ische Be-
sitzstand einschließlich der EuGH-Rspr. (acquis communautai-
re) wurde nur bis zum Tag seiner Unterzeichnung am 21. 6.
1999 u¨bernommen
6
. U¨ ber die zeitlich nachfolgende Rspr. wird
die Schweiz im sog. Gemischten Ausschuss informiert, sie ist fu¨r
die Auslegung des FZA jedoch nicht verbindlich (Art. 16 Abs. 2
FZA). Die EuGH-Rspr. ist nur fu¨r die EU-Mitgliedstaaten
bindend, nicht aber fu¨r die Schweiz. Dort ist gem. Art. 11 FZA
das Eidgeno¨ssische Bundesgericht in Lausanne fu¨r die letzt-
instanzliche Auslegung des FZA zusta¨ndig
7
.
In den Schutzbereich des FZA fallen grds. nur solche Selbst-
sta¨ndige (und Arbeitnehmer), die Mitgliedstaat einer Vertrags-
partei sind und sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei
beta¨tigen (Art. 12 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 Anh. I FZA).
Voraussetzung ist demnach, dass der Selbststa¨ndige nicht die
Staatsangeho¨rigkeit von der Vertragspartei hat, in der er ta¨tig
wird. Es sind somit nur zwei Fallgruppen erfasst, entweder beta¨-
tigt sich ein EU-Staatsangeho¨riger in der Schweiz oder ein
Schweizer in der EU.
Hervorzuheben sind die Sonderregelungen fu¨r „selbststa¨ndige
Grenzga¨nger“ im FZA. Hierunter fa¨llt ein Staatsangeho¨riger ei-
ner Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Ver-
tragspartei, der einer selbststa¨ndigen Erwerbsta¨tigkeit im Ho-
heitsgebiet einer anderen Vertragspartei nachgeht und i. d. R.
ta¨glich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohn-
ort zuru¨ckkehrt (Art. 13. Abs. 1 Anh. I FZA). Selbststa¨ndige
Grenzga¨nger sind gegenu¨ber den (u¨brigen) Selbststa¨ndigen
einerseits privilegiert, da sie keine Aufenthaltserlaubnis beno¨ti-
gen (Art. 13 Abs. 2 Anh. I FZA). Anderseits erfasst das
Gleichbehandlungsgebot des FZA nach Wortlaut nur Selbst-
sta¨ndige, nicht aber selbststa¨ndige Grenzga¨nger. Deshalb war es
lange unklar, ob sie ebenfalls von der Inla¨ndergleichbehandlung
profitieren konnten. In der Rs. Stamm und Hauser hat sich der
Gerichtshof mit dieser Frage befasst und entschieden, dass diese
Norm teleologisch auszulegen ist und somit auch fu¨r selbststa¨n-
dige Grenzga¨nger gilt, selbst wenn in der Vorschrift nur von
Selbststa¨ndigen die Rede ist (Art. 15 Abs. 1 Anh. I FZA). Den
selbststa¨ndigen Grenzga¨ngern stehen somit die gleichen steuer-
lichen und sozialen Vergu¨nstigungen wie inla¨ndischen Personen
zu, die eine selbststa¨ndige Ta¨tigkeit ausu¨ben (Art. 15 Abs. 2
i. V. mit Art. 9 Abs. 2 Anh. I FZA)
8
.
IV. Wu¨rdigung durch den EuGH
Zuna¨chst pru¨fte der EuGH, ob der Anwendungsbereich des
FZA ero¨ffnet ist. Im Unterschied zum
GA Ja¨a¨skinen
9
und der
Kommission sowie Deutschland stellt der EuGH klar, es bestehe
nicht nur Abkommensschutz, wenn ein Vertragsstaat fremde
Staatsangeho¨rige gegenu¨ber Inla¨ndern diskriminiere. Vielmehr
ko¨nnen sich die Staatsangeho¨rigen eines Vertragsstaats unter ge-
wissen Umsta¨nden auch gegenu¨ber ihrem eigenen Heimatland
auf das FZA berufen
10
. Die Definition des selbststa¨ndigen
Grenzga¨ngers setze lediglich die Trennung zwischen Ansa¨ssig-
keits- und Ta¨tigkeitsstaat voraus, nicht jedoch zwischen Staats-
angeho¨rigkeits- und Ta¨tigkeitsstaat (Art. 13. Abs. 1 Anh. I
FZA)
11
. Die Norm hebe die besondere Situation der selbststa¨n-
digen Grenzga¨nger hervor und verdeutliche den Willen der Ver-
tragsparteien, deren Freizu¨gigkeit und Mobilita¨t zu erleichtern
12
.
Daher fallen die Eheleute Ettwein, da sie in Deutschland arbei-
ten und ta¨glich zu ihrem Wohnort in die Schweiz zuru¨ckkehren,
unter die Definition der selbststa¨ndigen Grenzga¨nger, und ko¨n-
nen eine Gleichbehandlung beanspruchen (Art. 15 Abs. 1
Anh. I FZA)
13
.
Deutschland als Aufnahmestaat der Eheleute Ettwein sei
demnach verpflichtet, selbststa¨ndigen Grenzga¨ngern dieselben
steuerlichen Vergu¨nstigungen zu gewa¨hren wie in Deutschland
ansa¨ssigen Selbststa¨ndigen (Art. 15 Abs. 1 i. V. mit Art. 15
Abs. 2 i. V. mit Art. 9 Abs. 2 Anh. I FZA)
14
.
Die Steuerklausel in Art. 21 Abs. 2 FZA berechtige aller-
dings die Vertragsparteien, bei der Anwendung ihrer jeweiligen
Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Stpfl. zu ma-
chen, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes –
nicht in einer vergleichbaren Lage befinden
15
.
Nach st. Rspr. des EuGH befinden sich Gebietsansa¨ssige
und Gebietsfremde grds. nicht in einer vergleichbaren Lage. Der
Wohnsitzstaat ist u¨blicherweise fu¨r die Beru¨cksichtigung der
perso¨nlichen und familia¨ren Umsta¨nde verantwortlich
16
. Nur im
Fall des ausschließlichen oder fast ausschließlichen Erzielens des
Welteinkommens im Ta¨tigkeitsstaat komme eine Vergleichbar-
keit in Betracht und somit auch die Verpflichtung des Ta¨tig-
keitsstaats, die perso¨nlichen und familia¨ren Verha¨ltnisse zu be-
ru¨cksichtigen
17
. Dies sei bei den Eheleuten Ettwein der Fall,
da sie ihr gesamtes Einkommen in Deutschland erzielen, somit
befinden sie sich mit deutschen Gebietsansa¨ssigen in einer ver-
gleichbaren Lage. Eine unterschiedliche Behandlung sei daher
aufgrund des Art. 21 Abs. 2 FZA unzula¨ssig. Folglich du¨rfe
Deutschland ihnen im Hinblick auf den schweizerischen Wohn-
sitz nicht das Splittingverfahren versagen. Eine Beru¨cksichti-
gung der perso¨nlichen Lebenssituation in der Schweiz sei nicht
mo¨glich, da sie dort keine steuerpflichtigen Einku¨nfte erzielen
18
.
V. Beurteilung der Entscheidung
1. Konsequenzen fu¨r die Mitgliedstaaten
Das Urteil gilt aufgrund des inhaltsgleichen Regelungswortlauts
sowohl fu¨r selbststa¨ndige als auch fu¨r nichtselbststa¨ndig bescha¨f-
tigte Grenzga¨nger (Art. 13 und 7 Anh. I FZA)
19
. Fu¨r die deut-
sche Regelungslage folgt hieraus ein partieller Anpassungsbedarf
5 Vgl. EuGH vom 12. 11. 2009, a.a.O. (Fn.3), Rdn. 39-43; vom 11. 2. 2010,
a.a.O. (Fn.3), Rdn. 30-37.
6
Breitenmoser/Weyeneth
, EuZW 2012 S. 856.
7 Zu den mo¨glichen Folgen divergierender Rspr.
Kessler/Eicker/Obser
, IStR
2005 S. 659.
8 EuGH vom 22. 12. 2008, a.a.O. (Fn. 3), Rdn. 46.
9 GA
Ja¨a¨skinen
vom 18. 2. 2012 – Rs. C-425/11, Ettwein, noch nicht in der
amtlichen Sammlung vero¨ffentlicht, Rdn. 51.
10 EuGH vom 15. 12. 2011, a.a.O. (Fn. 3), Rdn. 27-34; vom 28. 2. 2013, a.a.O.
(Fn. 4), Rdn. 33.
11 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 35.
12 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 38.
13 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 40.
14 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 43.
15 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 44.
16 EuGH-Urteil vom 14. 2. 1995 – Rs. C-279/93, Schumacker, EuGHE 1995
S. I-225 = DB 1995 S. 407, Rdn. 32-34; vom 27. 6. 1996 – Rs. C-107/94,
Asscher, EuGHE 1996 S. I-3089 = DB 1996 S. 1604, Rdn. 41.
17 EuGH vom 14. 2. 1995, a.a.O. (Fn. 16), Rdn. 37-38; vom 27. 6. 1996, a.a.O.
(Fn. 16), Rdn. 42-43; vom 11. 8. 1995 – Rs. C-80/94, Wielockx, EuGHE 1995
S. I-2493 = DB 1995 S. 2147, Rdn. 20.
18 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 45-47.
19 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 47.
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Steuerrecht
DER BETRIEB | Nr. 21 | 24. 5. 2013
1...,20,21,22,23,24,25,26,27,28,29 31,32,33,34,35,36,37,38,39,40,...86
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