des § 1a EStG, denn die fiktive unbeschra¨nkte Steuerpflicht ist
– vorbehaltlich der relativen bzw. absoluten Einku¨nftegrenzen
und der ggf. vorzunehmenden (im EU/EWR-Kontext aber
nicht unproblematischen) Ku¨rzungen – jedem Gebietsfremden
zuga¨nglich (§ 1 Abs. 3 EStG). Familia¨re Vergu¨nstigungen wie
das Ehegattensplitting ko¨nnen dagegen nur dann in Anspruch
genommen werden, wenn der Stpfl. einen doppelten EU/EWR-
Bezug (d. h. Staatsangeho¨rigkeit und Wohnsitz) aufweist und
der Familienangeho¨rige in der EU bzw. dem EWR ansa¨ssig ist
(§ 1a Abs. 1 EStG). Nach der aktuellen Entscheidung bedarf es
der Einbeziehung der Schweiz und ihrer Staatsangeho¨rigen in
diesen Anwendungsbereich.
Weiterhin hat das Urteil auch Auswirkungen auf die u¨brigen
EU-/EWR-Mitgliedstaaten. So gewa¨hrt z. B. O¨ sterreich als po-
tenzielles Grenzpendlerland die fiktiv unbeschra¨nkte Steuer-
pflicht nur EU-/EWR-Staatsangeho¨rigen (§ 1 Abs. 4 EStG-
O¨ sterreich). Auch diese Klausel ist fu¨r die Schweiz zu o¨ffnen.
Allerdings ist die Konstellation der Eheleute Ettwein mit
Wohnsitz in der Schweiz und der Ta¨tigkeit im Ausland weit we-
niger ha¨ufig als der umgekehrte Fall. Auf Anfrage hat das Bun-
desamt fu¨r Statistik im Rahmen ihrer schweizerischen Arbeits-
kra¨fteerhebung 2012
20
mitgeteilt, dass es nach Hochrechnungen
ca. 6.267 solcher Grenzga¨nger geben sollte
21
. Somit ist es eine
nicht unerhebliche Zahl an Grenzpendlern, die von diesem Ur-
teil profitieren ko¨nnen.
Aufgrund der speziellen Sachlage lassen sich aus dem Urteil
allerdings keine Schlu¨sse fu¨r andere problematische Bereiche wie
die ju¨ngst durch die BFH-Rspr. besta¨tigte Bruttobesteuerung
von in der Schweiz ansa¨ssigen beschra¨nkt Stpfl. ziehen
22
.
2. Konsequenzen fu¨r die Schweiz
Die Auslegung des FZA bezu¨glich des schweizerischen Rechts
obliegt dem Eidgeno¨ssischen Bundesgericht. Im Januar 2010
hatte es u¨ber einen a¨hnlich gelagerten Fall zu entscheiden
23
. Ein
schweizerischer Grenzga¨nger, der in Frankreich lebte und in der
Schweiz arbeitete, hatte gegen die Bruttobesteuerung seines Ar-
beitslohns geklagt. Das Bundesgericht bejahte aufgrund des all-
gemeinen und des speziellen Diskriminierungsverbots (Art. 2
und Art. 9 Abs. 2 Anh. I FZA) die Anwendung der Arbeitneh-
merfreizu¨gigkeit fu¨r den schweizerischen Grenzga¨nger. Das
Bundesgericht u¨bertrug des Weiteren die Schumacker-Doktrin
auf den Sachverhalt und stellte so eine nicht zu rechtfertigende
Diskriminierung fest
24
.
Das Urteil des Bundesgerichts stand bis zur Rs. Ettwein in
scheinbarem Widerspruch zur Auslegung des FZA seitens des
EuGH. Dieser hatte kurz zuvor in der Rs. Grimme explizit aus-
geschlossen, dass ein Staatsangeho¨riger einer Vertragspartei ge-
genu¨ber seinem Heimatstaat Rechte aus dem FZA geltend ma-
chen ko¨nnte (vgl. unter V. 3.). Das Urteil schien die immanente
„Gefahr einer Rechtszersplitterung“
25
zu besta¨tigen, Erkla¨rungs-
versuche konnten nicht u¨berzeugen
26
.
Mit dem Urteil in der Rs. Ettwein ist der dogmatische Wi-
derspruch aufgelo¨st und es gelten nunmehr dieselben Grundsa¨t-
ze fu¨r alle Grenzga¨nger: ihnen mu¨ssen dieselben steuerlichen
Vergu¨nstigungen gewa¨hrt werden wie inla¨ndischen Stpfl.
3. Auswirkungen auf die weitere Auslegung des FZA
a) Schutzbereich
Bei der Urteilsanalyse fa¨llt die Position des Generalanwalts als
auch der Kommission auf, wonach der vorliegende Sachverhalt
nicht vom FZA erfasst werde. Diese Argumentation lag auf ei-
ner Linie mit der Rs. Grimme, in der der EuGH die Auffassung
vertrat, nur der Fall einer Diskriminierung aus Gru¨nden der
Staatsangeho¨rigkeit gegenu¨ber einem Angeho¨rigen einer Ver-
tragspartei im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei sei ab-
kommensrechtlich geschu¨tzt. Er lehnte es im Rahmen des FZA
ab, dem deutschen Staatsangeho¨rigen Grimme, der bei der deut-
schen Niederlassung einer schweizerischen AG angestellt sowie
Mitglied des Verwaltungsrats derselben AG war und fu¨r Sozial-
versicherungszwecke ungu¨nstiger gestellt wurde als ein Mitglied
des Vorstands einer deutschen AG, die Arbeitnehmerfreizu¨gig-
keit zu gewa¨hren. Aus Sicht des EuGH mangelte es bei der Rs.
Grimme am grenzu¨berschreitenden Element, da Grimme als
deutscher Staatsangeho¨riger und Angestellter einer deutschen
Niederlassung der schweizerischen AG eine Diskriminierung
durch deutsche und nicht durch schweizerische Beho¨rden erfah-
ren habe
27
.
Allerdings relativierte der EuGH in der Rs. Bergstro¨m das
zuvor postulierte strenge Diskriminierungsverbot. Die Luxem-
burger Richter ermo¨glichten in diesem Urteil einer schwedischen
Staatsangeho¨rigen, die in der Schweiz gelebt und anschließend
nach Schweden zuru¨ckgekehrt war und wegen des Aufenthalts
in der Schweiz von den schwedischen Beho¨rden ungu¨nstiger be-
handelt wurde, als wenn sie in Schweden geblieben wa¨re, sich
auf das FZA zu berufen. Der Generalanwalt sah die Rs. Berg-
stro¨m fu¨r die gegensta¨ndliche Sachverhaltsauslegung allerdings
als nicht einschla¨gig an und orientierte sich vielmehr an der
Grimme-Rspr.
Der Gerichtshof stu¨tzte sich hingegen auf die Rs. Berg-
stro¨m
28
und legte den FZA-Begriff „Selbststa¨ndiger Grenzga¨n-
ger“ akribisch genau nach dem Wortlaut aus. Er besta¨tigte folg-
lich die weite Auslegung des FZA, die er aus dem zweiten Satz
der Pra¨ambel ableitete
29
und bekra¨ftigte das Diskriminierungs-
verbot fu¨r Stpfl. gegenu¨ber ihrem Heimatstaat, wenn sie von
ihrem Freizu¨gigkeitsrecht Gebrauch machen
30
. Dabei herrschte
in der Literatur bisweilen die gegenteilige Meinung, dass eine
solche Grenzga¨ngerkonstellation wie die der Eheleute Ettwein
aufgrund der Ziele des FZA nicht in dessen Schutzbereich fa¨llt
31
.
b) U¨ bertragung der Schumacker-Rspr. auf das FZA
Die Gewa¨hrung des Splittingverfahrens an die Eheleute Ettwein
stu¨tzte der EuGH auf Art. 9 Abs. 2 Anh. I FZA, der u¨ber
20
.
21 Aufgrund der kleinen Stichprobe ist die Hochrechnung mit Unsicherheit ver-
bunden. Das Konfidenzintervall geht dabei von 4.935 bis 7.599, d. h. die
„wahre“ Anzahl der Grenzga¨nger liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 95%
zwischen diesen beiden Werten. Bei der letzten Volkserhebung 2000 gab es
7.468 in der Schweiz ansa¨ssige Grenzga¨nger, davon 2.340 Ausla¨nder.
22 Nach der BFH-Rspr. ist es zula¨ssig, dass bei in der Schweiz Ansa¨ssigen, die
in Deutschland als beschra¨nkt Stpfl. ta¨tig werden, der Vergu¨tungsschuldner
15% der Einnahmen als ESt einbeha¨lt: BFH-Urteil vom 7. 9. 2011 – I B
157/10, DB 2011 S. 2695. Denn das entsprechende EuGH-Urteil ist erst nach
Abkommensunterzeichnung in Kraft getreten, sodass es auf die Schweiz
nicht anwendbar ist. EuGH-Urteil vom 3. 10. 2006 – Rs. C-290/04, FKP Scor-
pio, EuGHE 2006 S. I-09461 = DB 2007 S. 1168. Vgl.
Beiser
, IStR 2012
S. 303.
23 Eidgeno¨ssisches Bundesgericht vom 26. 1. 2010 – verbundene Rs.
2C.319/2009 und 2C.321/2009, BGE 136 II S. 241.
24 Detaillierter zum Sachverhalt und zur Urteilsbegru¨ndung
Heuberger/Oester-
helt
, ET 2010 S. 285.
25
Cottier/Evtimov
in: Cottier/Oesch (Hrsg.), Die sektorallen Abkommen der
Schweiz-EG, 1. Aufl. 2002, S. 205.
26
Tobler
, SZIER 2011 S. 389.
27 EuGH vom 12. 11. 2009, a.a.O. (Fn. 3), Rdn. 49.
28 EuGH vom 15. 12. 2011, a.a.O. (Fn. 3), Rdn. 27-28.
29 Die Vertragsparteien sind „
entschlossen, diese Freizu¨gigkeit zwischen ihnen
auf der Grundlage der in der Europa¨ischen Gemeinschaft geltenden Bestim-
mungen zu verwirklichen
“.
30 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 51.
31
Benesch
, Das Freizu¨gigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Euro-
pa¨ischen Gemeinschaft, 1. Aufl. 2007, S. 125.
DER BETRIEB | Nr. 21 | 24. 5. 2013
Steuerrecht
1143