Art. 15 Abs. 2 Anh. I FZA sinngema¨ß auch fu¨r Selbststa¨ndige
gilt
32
. Nach dieser Vorschrift genießen fremde Arbeitnehmer
und ihre Familienangeho¨rigen die gleichen steuerlichen und so-
zialen Vergu¨nstigungen wie inla¨ndische Arbeitnehmer und ihre
Familienangeho¨rigen. Der Begriff der „steuerlichen und sozialen
Vergu¨nstigungen“ bezieht sich dabei direkt auf den Gleichheits-
grundsatz des Art. 7 Abs. 2 der sog. Wanderarbeitnehmerver-
ordnung
33
. Bei der Auslegung von Begriffen des Gemeinschafts-
rechts wie der „steuerlichen und sozialen Vergu¨nstigungen“ ist
gem. Art. 16 Abs. 2 FZA explizit die einschla¨gige Rspr. des
EuGH bis zur Abkommensunterzeichnung zu beru¨cksichtigen.
Die Schumacker-Rspr. ist direkter Ausfluss des Art. 7 Abs. 2
Wanderarbeitnehmerverordnung
34
. Da die Rs. Schumacker vor
Unterzeichnung des FZA ergangen ist, hat der EuGH somit kon-
sequenterweise seine Grundsa¨tze zu der Auslegung des Begriffs
der „steuerlichen Vergu¨nstigungen“ auf das FZA u¨bertragen.
Mit diesem Urteil deutet sich wohl an, dass der EuGH seine
weite Auslegung der „steuerlichen und sozialen Vergu¨nstigun-
gen“
35
auch auf schweizerische Sachverhalte ausdehnen ko¨nnte.
Besonders die Rechtsprechung zu den sozialen Vergu¨nstigungen
ist umfangreich und erfasst grundsa¨tzlich alle Maßnahmen, die
den inla¨ndischen Arbeitnehmern grundsa¨tzlich wegen ihrer
objektiven Arbeitnehmereigenschaft gewa¨hrt werden und die die
Mobilita¨t der Arbeitnehmer mit fremder Staatsangeho¨rigkeit
fo¨rdern wu¨rden.
c) Mo¨gliche Rechtfertigungsgru¨nde
Der EuGH zog bei der Urteilspru¨fung keine Rechtfertigungs-
gru¨nde heran. Er u¨bertrug das Wesen seiner bisherigen Schum-
acker-Rspr. auf das Besprechungsurteil, wandte aber nicht das
vollsta¨ndige Pru¨fungsschema seiner Urteile an. Sowohl in der
Rs. Schumacker als auch in der Rs. Wielockx hatte der EuGH
na¨mlich die Schwierigkeit der Einku¨nfteerfassung im Wohnsitz-
staat mit Verweis auf die Amtshilferichtlinie
36
entkra¨ftet
37
. Auch
sonst ist Amtshilfe u¨blicherweise die Voraussetzung, damit
Drittstaatensachverhalte in den Genuss der Kapitalverkehrsfrei-
heit kommen, die als einzige Grundverkehrsfreiheit auch im
Verha¨ltnis zu Drittstaaten gilt
38
. Die mangelnde Amtshilfe
39
zwischen der Schweiz und den EU-Staaten hatte bereits zur
Versagung der Kapitalverkehrsfreiheit gefu¨hrt
40
.
Im Rahmen des FZA hat der Gerichtshof einen anderen
Weg eingeschlagen. Bereits in der Rs. Graf und Engel hatte er
erkla¨rt, nur die geschriebenen Gru¨nde der o¨ffentlichen Ord-
nung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 5 Abs. 1 Anh. I FZA)
als Rechtfertigung zu akzeptieren
41
. Demnach sieht der EuGH
seine Rspr. zu den zwingenden Gru¨nden des Allgemeininteres-
ses zurzeit nicht auf das FZA anwendbar
42
. Folglich bleiben die
ungeschriebenen Rechtfertigungsgru¨nde wie die wirksame steuer-
liche Kontrolle, die Koha¨renz des Steuersystems oder die Verhin-
derung von Steuerumgehung und Steuerflucht, die der Gerichts-
hof bereits vor Unterzeichnung des FZA anerkannt hatte, fu¨r
Eingriffe in die Personenfreizu¨gigkeit unberu¨cksichtigt. Dies engt
den Spielraum der Mitgliedstaaten ein, mo¨gliche Verletzungen
des FZA zu rechtfertigen.
VI. Zusammenfassung
Der EuGH hat in dem Besprechungsurteil entschieden, dass der
Splittingtarif auch in der Schweiz ansa¨ssigen Stpfl. zu gewa¨hren
ist, wenn sie (nahezu) ihr gesamtes Einkommen in Deutschland
erzielen, unabha¨ngig davon, ob sie selbststa¨ndig oder als Arbeit-
nehmer ta¨tig sind. Der EuGH ist somit seiner Schumacker-
Rspr. trotz z. T. heftig geu¨bter Kritik
43
treu geblieben und hat
sie auch auf die Schweiz ausgeweitet. Die U¨ bertragung der
Schumacker-Rspr. bedeutet aber, dass der gesamte § 1a EStG
fu¨r die Schweiz geo¨ffnet werden muss. Auch die u¨brigen EU-
Mitgliedstaaten werden ihre Vorschriften anpassen mu¨ssen. Das
Urteil ist nicht bindend fu¨r die Schweiz, jedoch besta¨tigt es ein
bereits im Januar 2010 ergangenes Urteil des Bundesgerichts zu
einem a¨hnlich gelagerten Sachverhalt.
Mit seiner Rspr. hat der EuGH die Rechte der Grenzga¨nger
weiter gesta¨rkt. Er hat klargestellt, dass sich Staatsangeho¨rige ei-
ner Vertragspartei auf das Diskriminierungsverbot auch gegen-
u¨ber ihrem Heimatstaat berufen ko¨nnen, wenn sie von ihrem
Freizu¨gigkeitsrecht Gebrauch machen.
Außerdem legt das Urteil den Schluss nahe, dass der EuGH
neben der Schumacker-Doktrin auch seine u¨brige Rspr. zu den
„steuerlichen und sozialen Vergu¨nstigungen“ zum Art. 7 Abs. 2
Wanderarbeitnehmerverordnung, auf den sich Art. 9 Abs. 2
Anh. I FZA direkt bezieht, auf schweizerische Sachverhalte aus-
dehnen ko¨nnte.
Daru¨ber hinaus sind Eingriffe in die Personenfreizu¨gigkeit
wohl nur durch die wenigen geschriebenen Gru¨nde des FZA
nicht aber durch die bei den Grundverkehrsfreiheiten u¨blichen
zwingenden Gru¨nde des Allgemeininteresses wie die Koha¨renz
des Steuersystems oder die Verhinderung von Steuerumgehung
rechtfertigbar. Den Mitgliedstaaten steht somit nur ein enger
Spielraum zur Verfu¨gung, um etwaigen Verletzungen des FZA
argumentativ zu begegnen.
Redaktionelle Hinweise:
l
Volltext-Urteil online: DB0581436;
l
dazu auch
Hennigfeld,
StR kompakt DB0585211;
l
EuGH-Urteil vom 14. 2. 1995 – Rs. C-279/93, Schumacker, DB
1995 S. 407 = DB0099573;
l
EuGH-Urteil vom 11. 8. 1995 – Rs. C-80/94, Wielockx, DB 1995
S. 2147 = DB0098863;
l
EuGH-Urteil vom 3. 10. 2006 – Rs. C-290/04, FKP Scorpio, DB
2007 S. 1168 = DB0218518.
32 EuGH vom 28. 2. 2013, a.a.O. (Fn. 4), Rdn. 42.
33 VO 1612/68 des Rates vom 15. 10. 1968 u¨ber die Freizu¨gigkeit der Arbeit-
nehmer innerhalb der Gemeinschaft ABlEG 1968 L 257 S. 2; vgl. GA vom
20. 5. 2010 – Rs. C-70/09, Hengartner und Gasser, Fn. 17 und
Benesch
,
a.a.O. (Fn. 31), S. 131 f.
34 EuGH vom 14. 2. 1995, a.a.O. (Fn. 16), Rdn. 23; vom 16. 5. 2000 –
Rs. C-87/99, Zurstrassen, EuGHE 2000 S. I-3337, Rdn. 18. Vgl. auch
Becker
,
in: Ehlers (Hrsg.), Europa¨ische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl.
2009, § 9 Rdn. 22.
35 U¨ berblick in
Wo¨lker/Grill
, in: vd Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6. Aufl. 2003,
Art. 39 Rdn. 55 ff.
36 RL 2011/16/EU vom 15. 2. 2011 u¨ber die Zusammenarbeit der Verwaltungs-
beho¨rden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie
77/799/EWG, ABlEU 2011 L 64 S. 1.
37 EuGH vom 14. 2. 1995, a.a.O (Fn. 16), Rdn. 43-45, vom 11. 8. 1995, a.a.O.
(Fn. 17), Rdn. 26.
38
Lang
, StuW 2011 S. 209.
39
Koblenzer/Gu¨nther
, IStR 2012 S. 872 ff.
40 EuGH vom 18. 12. 2007 – Rs. C-101/05, A, EUGHE 2007 S. I-11531.
41 Vgl. auch
Hangartner
, AJP 2003 S. 265.
42 Mit EuGH-Urteil vom 20. 2. 1979 – 120/78, Cassis-de-Dijon, EuGHE 1979
S. 649 hatte der EuGH das Konzept der zwingenden Gru¨nde des Allgemein-
interesses bei der Warenverkehrsfreiheit eingefu¨hrt und bis Abkommens-
unterzeichnung auf die Arbeitnehmerfreizu¨gigkeit und die Niederlassungs-
freiheit explizit u¨bertragen. Vgl.
Kingreen
, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/
AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 36 AEUV, Rdn. 80.
43 Z. B.
Lang,
RIW 2005 S. 336.
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Steuerrecht
DER BETRIEB | Nr. 21 | 24. 5. 2013