DER BETRIEB 21 - page 50

oder Pflichtangebot sei in Bezug auf die Mo¨glichkeit, Minder-
heitsaktiona¨re in dem vereinfachten Verfahren des WpU¨ G aus-
schließen zu lassen, nicht erfolgreich gewesen, wenn der Bieter
bei Ablauf der (weiteren) Annahmefrist die 95%-Schwelle nicht
erreicht habe
20
. Das mag die Folge der Entscheidung des BGH
sein, ist aber kein Argument, diese zu tragen.
3. Bezug zur Angemessenheitsvermutung
Einem grundlegenden Missversta¨ndnis unterliegt der BGH,
wenn er erga¨nzend ausfu¨hrt, die Angemessenheitsvermutung
verliere mit zunehmendem Zeitablauf an U¨ berzeugungskraft.
Hier muss sauber zwischen den Schwellen des § 39a Abs. 1
Satz 1 WpU¨ G und des § 39a Abs. 3 Satz 3 WpU¨ G getrennt
werden. Die Angemessenheitsvermutung hat nichts mit der
95%-Schwelle fu¨r die Antragstellung zu tun, sondern basiert al-
lein auf dem Umstand, dass 90% des vom Angebot adressierten
Kapitals den Angebotspreis durch Annahme des Angebots oder
durch Verkauf an den Bieter zu Preisen bis zur Ho¨he des Ange-
botspreises als angemessen eingestuft haben
21
. Die Angemessen-
heitsvermutung ergibt sich aus einer relativen Gro¨ße, na¨mlich
dem Quotienten aus den zum Angebotspreis oder darunter er-
worbenen Aktien und den vom Angebot adressierten Aktien.
Demgegenu¨ber bezieht sich die 95%-Schwelle fu¨r den Squeeze-
out-Antrag auf eine absolute Gro¨ße, na¨mlich das gesamte Kapi-
tal.
Der Gesetzgeber hat ausdru¨cklich festgelegt, dass die Ange-
messenheitsvermutung so lange gilt, wie der Bieter einen Squee-
ze-out-Antrag gem. § 39a Abs. 4 Satz 1 WpU¨ G stellen kann.
Er hat diese Frist mit drei Monaten nach Ablauf der weiteren
Annahmefrist bemessen. Innerhalb dieses Zeitraums erkennt der
Gesetzgeber die Aussagekraft der Angemessenheitsvermutung
an. An der Dreimonatsfrist fu¨r die Antragstellung a¨ndert sich
auch dann nichts, wenn der Hauptaktiona¨r erst nach Ablauf der
weiteren Annahmefrist 95% oder mehr des Kapitals erwirbt.
Auch in diesem Fall muss die 90%-Schwelle fu¨r die Angemes-
senheitsvermutung bis zum Ablauf der weiteren Annahmefrist
erreicht worden sein. Da die 95%-Schwelle mit der Angemes-
senheitsvermutung in keinem Zusammenhang steht, ko¨nnen aus
der Frist zur Erreichung der 90%-Schwelle keine Schlu¨sse auf
die Frist fu¨r die 95%-Schwelle gezogen werden. Fu¨r Letztere
kann es keine Rolle spielen, ob die Aktien vor, wa¨hrend oder
nach Ablauf der (weiteren) Annahmefrist erworben wurden, so-
fern die 95%-Schwelle nur bis zur Antragstellung erreicht ist.
Die 95%-Schwelle ist Antragsvoraussetzung und der Antrag
kann bis drei Monate nach der Annahmefrist gestellt werden.
4. Rechtssicherheit und Materialien
Nicht u¨berzeugend ist schließlich das Rechtssicherheitsargument
des BGH. Im Vergleich zu der vom BGH gewa¨hlten Lo¨sung
wa¨re die Rechtssicherheit zwar in der Tat geringer, wenn auf ei-
nen unbestimmten „engen zeitlichen Zusammenhang“ mit dem
Angebot abgestellt wu¨rde. Der BGH ha¨tte jedoch dasselbe Maß
an Rechtssicherheit erreichen ko¨nnen, wenn er mit der ganz
herrschenden Meinung auf die dreimonatige Antragsfrist abge-
stellt ha¨tte oder seinerseits den engen zeitlichen Zusammenhang
so definiert ha¨tte, dass die im WpU¨ G bei vera¨nderten Umsta¨n-
den u¨bliche zweiwo¨chige U¨ berlegungsfrist fu¨r die Minderheits-
aktiona¨re gewahrt worden wa¨re. Dem BGH ist zuzugeben, dass
hier ein gesetzgeberisches Versa¨umnis vorliegt. Der Gesetzgeber
hat den Fall nicht adressiert, dass die 95%-Schwelle erst am En-
de der Antragsfrist fu¨r den u¨bernahmerechtlichen Squeeze-out
erreicht wird und damit de facto die Minderheitsaktiona¨re keine
U¨ berlegungsfrist mehr ha¨tten. Dies ha¨tte der BGH aber leicht
bereinigen ko¨nnen.
Es u¨berrascht, wenn der BGH feststellt, die Gesetzesmateria-
lien stu¨nden seiner Wertung nicht entgegen. Der Gesetzgeber
geht in der Begru¨ndung des U¨ bernahmerichtlinie-Umsetzungs-
gesetzes ausdru¨cklich davon aus, dass der Bieter die
95%-Schwelle auch durch Transaktionen außerhalb des formel-
len Angebotsverfahrens erreichen kann, sofern diese „in engem
zeitlichen Zusammenhang mit dem Angebot stehen“
22
. Wie der
BGH diese Aussage mit seiner Ansicht in Einklang bringen
will, bleibt unklar und wird auch nicht na¨her ausgefu¨hrt. U¨ ber-
zeugender ist es dagegen, den vom Gesetzgeber angesprochenen
engen zeitlichen Zusammenhang mit der – um zwei Wochen
U¨ berlegungszeitraum verku¨rzten – dreimonatigen Antragsfrist
gleichzusetzen.
5. Konsequenzen fu¨r die Beteiligten
Im Ergebnis hat der BGH sowohl den verbliebenen Minder-
heitsaktiona¨ren als auch dem Hauptaktiona¨r einen Ba¨rendienst
erwiesen und die Rechte beider Gruppen entgegen der gesetz-
geberischen Intention verku¨rzt. In einer U¨ bernahmesituation
wird ha¨ufig ein Premium gezahlt, um die Aktiona¨re zur Annah-
me des Angebots zu bewegen. Will der Bieter die große Mehr-
heit der Aktiona¨re u¨berzeugen, muss er einen Teil der Syner-
gien, die er sich verspricht, mit den Aktiona¨ren der Zielgesell-
schaft teilen. Der Kurs der Aktie wird durch das Angebot ge-
stu¨tzt. Dies geschieht jedoch nur tempora¨r, solange der Markt
an den Erfolg des Angebots glaubt. Scheitert das Angebot, ist
typischerweise ein deutlicher Kursru¨ckgang zu verzeichnen. Ist
das Angebot erfolgreich, ist ein Verbleib des Kurses auf hohem
Niveau keineswegs gesichert. Deshalb soll sich der außenstehen-
de Aktiona¨r ein Bild machen ko¨nnen, ob er in Anbetracht der
Stimmenmacht des Großaktiona¨rs weiterhin in der Gesellschaft
verbleiben will.
Fu¨r eine Weile mag die Spekulation auf eine Strukturmaß-
nahme den Kurs weiter stu¨tzen, auf Dauer aber nicht. Die ver-
bliebenen Minderheitsaktiona¨re sind dann wieder den normalen
Kra¨ften des Marktes ausgesetzt. Der Kurs wird durch ein Ange-
bot oder Spekulationen auf eine Strukturmaßnahme nicht la¨nger
gestu¨tzt. Bringt der Großaktiona¨r im Anschluss an sein Angebot
Zeit mit, bevor er die Zielgesellschaft integriert, mag der Kurs
der Aktien durchaus wieder stark zuru¨ckgehen. Hiergegen soll
das Andienungsrecht des § 39c WpU¨ G schu¨tzen.
Ist von vornherein klar, dass der Bieter spa¨ter einen Squeeze-
out in die Wege leiten kann, wenn die Kurse sich wieder norma-
lisiert haben, soll den außenstehenden Aktiona¨ren die letzte
Chance gegeben werden, im engen zeitlichen Zusammenhang
mit dem gu¨nstigen Angebot aus der U¨ bernahmesituation aus-
zusteigen. Dies la¨sst der BGH außer Betracht, wenn er schlicht
feststellt, es komme auch außerhalb von o¨ffentlichen Angeboten
vor, dass sich Aktiona¨re einer im Laufe der Zeit entstandenen
Mehrheitsbeteiligung von 95% gegenu¨bersa¨hen, ohne ein An-
dienungsrecht zu haben. Die nochmalige Chance zur Andie-
nung ist letztlich Teil des Gleichbehandlungskonzepts fu¨r die
außenstehenden Aktiona¨re in der U¨ bernahmesituation. Der
BGH versagt sie dem Minderheitsaktiona¨r, wie er umgekehrt
dem Bieter die Chance nimmt, ohne langwierige Bewertungs-
20 Ebenso
Bungert/Meyer
, EWiR 2013 S. 189 (190);
Seiler/Rath,
AG 2013 S. 252
(254).
21
Bungert/Meyer
, EWiR 2013 S. 189 (190).
22 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/1003 S. 21; s. auch
Merkner/Sustmann,
NZG 2013
S. 374 (376 f).
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Wirtschaftsrecht
DER BETRIEB | Nr. 21 | 24. 5. 2013
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