Prof. Dr. Wolfgang Marotzke, Universita¨t Tu¨bingen
Masseschuldbegru¨ndungskompetenz des Schuld-
ners im eigenverwalteten Insolvenzero¨ffnungs-
verfahren
u
DB0594291
I. Einleitung
Seit Inkrafttreten des ESUG
1
am 1. 3. 2012 sind zahlreiche Ge-
richtsentscheidungen und Fachpublikationen
2
erschienen, in de-
nen ausfu¨hrlich und kontrovers auf die Frage eingegangen wird,
ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang
einem im Insolvenzero¨ffnungsverfahren stehenden Schuldner
die Fa¨higkeit verliehen werden kann, Verbindlichkeiten zu be-
gru¨nden, die nach Ero¨ffnung des Insolvenzverfahrens nicht le-
diglich Insolvenzforderungen i. S. des § 38 InsO sind, sondern
echte Masseverbindlichkeiten i. S. der §§ 53, 55 InsO darstellen.
Diese Fa¨higkeit wird im Folgenden leicht verku¨rzend als Masse-
schuldbegru¨ndungskompetenz bezeichnet. Wie selbstversta¨nd-
lich wird heutzutage meist davon ausgegangen, dass eine Masse-
schuldbegru¨ndungskompetenz des noch im Ero¨ffnungsverfahren
befindlichen Schuldners erstmals durch das ESUG – konkret:
durch den auf dem ESUG beruhenden § 270b Abs. 3 InsO –
denkmo¨glich geworden sei
3
. Jedoch ist das Thema „Masse-
schuldbegru¨ndungskompetenz des Schuldners im Ero¨ffnungs-
verfahren“ keine Erfindung des ESUG, sondern genauso alt wie
die InsO. Die Erkenntnisse, die diesbezu¨glich bereits lange vor
Inkrafttreten des ESUG gewonnen werden konnten, sind auch
nach Inkrafttreten des ESUG von hohem Interesse, da das
ESUG die Masseschuldbegru¨ndungskompetenz des Schuldners
nicht erscho¨pfend, sondern nur ho¨chst unvollsta¨ndig geregelt
hat (s. unten III. 2. und III. 3.). Der vorliegende Beitrag beginnt
deshalb mit einem kurzen Ru¨ckblick auf die Zeit vor Schaffung
des ESUG.
II. Zur Rechtslage vor Inkrafttreten des ESUG
1. Damaliger Diskussionsstand
Bereits im Sommer 1999, also wenige Monate nach Inkrafttre-
ten der InsO, hatten
Ahrendt
und
Struck
4
die Facho¨ffentlichkeit
mit der These konfrontiert, dass es unter bestimmten Vorausset-
zungen zweckma¨ßig und rechtlich mo¨glich sei, den im Ero¨ff-
nungsverfahren stehenden Schuldner durch Beschluss des Insol-
venzgerichts zur Begru¨ndung von Masseschuldverbindlichkeiten
zu erma¨chtigen. Allerdings verbanden
Ahrendt
und
Struck
mit
dieser These die Einschra¨nkung, dass die dem Schuldner zu er-
teilende Masseschuldbegru¨ndungskompetenz so beschaffen sein
mu¨sse, dass der Schuldner sie nicht im Alleingang, sondern nur
mit Zustimmung eines vorla¨ufigen Insolvenzverwalters – z. B.
eines Zustimmungsverwalters i. S. von § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
Alt. 2 InsO – ausu¨ben ko¨nne; die Zustimmung des vorla¨ufigen
Insolvenzverwalters sei nicht lediglich Zula¨ssigkeits-, sondern
auch Wirksamkeitsvoraussetzung der Masseschuldbegru¨ndung.
Die von
Ahrendt
und
Struck
vorgeschlagene Konstruktion der
Masseschuldbegru¨ndungskompetenz des Schuldners erforderte
also zwingend die Bestellung eines vorla¨ufigen Insolvenzverwal-
ters; dies setzte ihrer Brauchbarkeit in Fa¨llen, in denen es sich
beim Schuldner um einen potenziellen Eigenverwaltungskan-
didaten handelte, enge Grenzen
5
.
Erheblich eigenverwaltungsfreundlicher war die nahezu zeit-
gleich gea¨ußerte, im Ergebnis durchaus treffsichere, aber leider
nicht na¨her begru¨ndete These von
Schlegel
, dass das Insolvenzge-
richt „im Rahmen der Generalerma¨chtigung des § 21 Abs. 1
InsO sowohl den Schuldner als auch den vorla¨ufigen Verwalter
ohne Verwaltungs- und Verfu¨gungsbefugnis zur Begru¨ndung von
Masseverbindlichkeiten erma¨chtigen (ko¨nne), was zur Finanzie-
rung des Verfahrens auch notwendig sein“ ko¨nne
6
.
In das gleiche Horn stieß, ebenfalls im Jahr 1999, der Verfasser
des vorliegenden Beitrags in einem Vortrag vor dem Arbeitskreis
der Insolvenzverwalter Deutschland e.V., der Vorga¨ngerorgani-
sation des heutigen VID
7
. Der Gedankengang war folgender
8
:
Wa¨hrend des Ero¨ffnungsverfahrens werde das Unternehmen
des Schuldners nur dann mit Aussicht auf Erfolg fortgefu¨hrt
werden ko¨nnen, wenn gewa¨hrleistet sei, dass verunsicherten Ge-
scha¨ftspartnern, die sich zuru¨ckzuziehen drohen, fu¨r den Ver-
zicht auf Zuru¨ckbehaltungsrechte und fu¨r Forderungen aus neu
abzuschließenden Vertra¨gen die Stellung von Massegla¨ubigern
angeboten werden ko¨nne
9
. Halte man sich streng an den Wort-
laut des § 55 Abs. 2 InsO, sei zur Begru¨ndung von Massever-
bindlichkeiten wa¨hrend der Zeit des Ero¨ffnungsverfahrens nicht
der Schuldner, sondern nur der vorla¨ufige Insolvenzverwalter er-
ma¨chtigt. Und selbst der vorla¨ufige Insolvenzverwalter ko¨nne,
wenn man den Wortlaut des § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO als a¨ußers-
te Grenze des rechtlich Mo¨glichen betrachte, Masseverbindlich-
keiten nur dann begru¨nden, wenn auf ihn die Verfu¨gungsbefug-
nis u¨ber das Vermo¨gen des Schuldners u¨bergegangen sei, was
gem. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO voraussetze, dass dem Schuldner
aufgrund des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO ein allgemei-
Prof. Dr. Wolfgang Marotzke
ist Inhaber des Lehrstuhls fu¨r Bu¨rgerli-
ches Recht, Zivilprozessrecht, Freiwillige Gerichtsbarkeit und Insol-
venzrecht an der Eberhard Karls Universita¨t Tu¨bingen.
1 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom
7. 12. 2011, BGBl. I 2011 S. 2582.
2
Buchalik/Kraus
, ZInsO 2012 S. 2330;
Oppermann/Smid
, ZInsO 2012 S. 862;
Frind
, ZInsO 2012 S. 1099;
Geißler
, ZInsO 2013 S. 531;
No¨ll
, ZInsO 2013
S. 745;
Buchalik/Kraus
, ZInsO 2013 S. 815;
Klinck
, ZIP 2013 S. 853; die ein-
schla¨gigen
Gerichtsentscheidungen
wurden unten im jeweiligen Sachzusam-
menhang zitiert.
3 Vgl. etwa AG Fulda, Beschluss vom 28. 3. 2012 – 91 IN 9/12, ZIP 2012
S. 1471 (1473 li. Sp.); zum Verfahrensfortgang s. u. Fn. 52;
No¨ll
, ZInsO 2013
S. 745 (Gliederungspunkt I), 748 und bereits fru¨her
Frind
, ZInsO 2004 S. 470
(472).
4
Ahrendt/Struck
, ZInsO 1999 S. 450 ff.
5 Daneben bestanden auch einige rechtsdogmatische Einwa¨nde, s. dazu unten
Fn. 17.
6
Schlegel
, Die Eigenverwaltung in der Insolvenz, 1999, S. 58.
7 Verband der Insolvenzverwalter Deutschlands e.V.; im Internet unter:
/ .
8 Vgl.
Marotzke
, Das Unternehmen in der Insolvenz, Fortfu¨hrung und Vera¨uße-
rung zwischen Ero¨ffnungsantrag und Berichtstermin, 2000, S. V (Hinweis
auf den im November 1999 gehaltenen Vortrag), 5 ff. (Rdn. 10 ff.), 87
(Rdn. 163).
9
Marotzke
, a.a.O. (Fn. 8), S. 5 Rdn. 10.
DER BETRIEB | Nr. 23 | 7. 6. 2013
Wirtschaftsrecht
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