mo¨glichkeiten, die bereits vor Inkrafttreten des ESUG zur Ver-
fu¨gung standen, zu interessanten und nur scheinbar neuen Er-
kenntnissen (s. u. III. 3.).
III. Die Rechtslage nach Inkrafttreten des ESUG
1. Entstehungsgeschichte und mo¨gliche Motive des § 270b
Abs. 3 InsO
a) Erster Akt: Berliner Trilog
Der am 4. 5. 2011 vorgelegte RegE eines Gesetzes zur weiteren
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)
23
ent-
hielt zwar bereits Vorschriften zum eigenverwalteten Ero¨ff-
nungsverfahren (§§ 270a, 270b InsO), thematisierte aber weder
in diesem noch in anderem Zusammenhang ausdru¨cklich die
Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen einem poten-
ziellen Eigenverwaltungskandidaten bereits wa¨hrend des Ero¨ff-
nungsverfahrens die Befugnis zur Begru¨ndung von Massever-
bindlichkeiten eingera¨umt werden kann. Zu einem Gegenstand
der Rechtspolitik wurde die Notwendigkeit, den Schuldner u. U.
bereits wa¨hrend des Ero¨ffnungsverfahrens zur Begru¨ndung von
Masseverbindlichkeiten erma¨chtigen zu ko¨nnen, anscheinend
erst wa¨hrend eines am 12. 5. 2011 an der Juristischen Fakulta¨t
der Humboldt-Universita¨t Berlin durchgefu¨hrten sog. Berliner
Trilogs zum Thema „ESUG – Neuer Rechtsrahmen fu¨r Re-
strukturierungen in der Insolvenz“. Hauptreferent dieser von
Paulus
moderierten und auch von Angeho¨rigen des BMJ be-
suchten Veranstaltung war
Landfermann
, als Koreferenten fun-
gierten
Kebekus
und der Verfasser des vorliegenden Beitrags. Die
Pra¨sentationsdateien der Referenten sowie die Berichte u¨ber die
Vortra¨ge und die anschließende Diskussion sind auf der Home-
page des Berliner Instituts fu¨r Interdisziplina¨re Restrukturierung
dokumentiert
24
. Das Koreferat des Verf. enthielt u. a. einen kriti-
schen Hinweis auf das Fehlen einer ausdru¨cklichen – wenn auch
letztlich nur klarstellenden
25
– gesetzlichen Regelung des Inhalts,
dass wa¨hrend des Ero¨ffnungsverfahrens nicht nur einem vorla¨u-
figen Insolvenzverwalter, sondern stattdessen und eigentlich so-
gar vorrangig auch dem Schuldner eine Masseschuldkompetenz
verliehen werden ko¨nne: Ohne eine solche gesetzliche Klarstel-
lung fehle ein wichtiger Baustein in der Ausgestaltung des eigen-
verwalteten Ero¨ffnungsverfahrens der §§ 270a und 270b InsO.
Entscheide man sich deshalb fu¨r eine ausdru¨ckliche gesetzliche
Regelung der Mo¨glichkeit, dem im Ero¨ffnungsverfahren stehen-
den Schuldner durch Gerichtsbeschluss eine Masseschuld-
begru¨ndungskompetenz zu verleihen (die ihm
nach
Verfahren-
sero¨ffnung und Anordnung der Eigenverwaltung ja bereits nach
geltendem
Recht zustehe), so sei es allerdings nur recht und billig,
erga¨nzend gesetzlich festzuschreiben, dass die organschaftlichen
Vertreter einer eigenverwaltenden und dabei Masseverbindlich-
keiten begru¨ndenden Gesellschaft wie „richtige“ Insolvenzver-
walter gem. oder analog §§ 60, 61 InsO perso¨nlich haften, wenn
eine von ihnen vor oder nach Ero¨ffnung des Insolvenzverfahrens
begru¨ndete Masseverbindlichkeit bei Fa¨lligkeit nicht vollsta¨ndig
erfu¨llt werden kann
26
. Beide Vorschla¨ge wurden in der anschlie-
ßenden Diskussion ausfu¨hrlich ero¨rtert
27
. Der erste Vorschlag
fand, wenn auch in einer vom Verf. so nicht intendierten Form,
den Eingang ins Gesetz (§ 270b Abs. 3 InsO), der zweite Vor-
schlag blieb erwartungsgema¨ß – denn es handelte sich um ein sehr
heißes Eisen
28
– auf der Strecke
29
. Zum Erfolg des erstgenannten
Vorschlags du¨rfte vermutlich die in einigen Diskussionsbeitra¨gen
aus dem Auditorium anklingende Hoffnung beigetragen haben,
dass mithilfe einer bereits im Ero¨ffnungsverfahren bestehenden
Masseschuldbegru¨ndungskompetenz des
Schuldners
der insolvenz-
rechtliche Rang einiger auf das Ero¨ffnungsverfahren entfallender
Steuerforderungen der Finanza¨mter massegu¨nstig und damit sa-
nierungsfreundlich beeinflusst werden ko¨nne – ein sehr interes-
santer Nebeneffekt, auf den im Zusammenhang mit der Nicht-
erwa¨hnung des § 55 Abs. 4 InsO in § 270b Abs. 3 InsO zuru¨ck-
zukommen sein wird (s. u. III. 2. d)).
b) Zweiter Akt: Beschlussfassung im Rechtsausschuss
Der na¨chste Schritt auf dem Weg zur erstmaligen gesetzlichen
Thematisierung einer Masseschuldbegru¨ndungskompetenz des
noch im Ero¨ffnungsverfahren stehenden Schuldners (§ 270b
Abs. 3 InsO) fu¨hrte u¨ber den Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages. Dieser entschloss sich in seiner 63. Sitzung am
26. 10. 2011 u. a. zu der Empfehlung, dem § 270b InsO-E als
dritten Absatz die folgenden zwei Sa¨tze anzufu¨gen:
„
Auf Antrag des Schuldners hat das Gericht anzuordnen, dass der Schuld-
ner Masseverbindlichkeiten begru¨ndet. § 55 Absatz 2 gilt entsprechend.
“
Nach dem Bericht des Rechtsauschusses beruhte dieser Er-
ga¨nzungsvorschlag, der unvera¨ndert in die endgu¨ltige Gesetzes-
fassung u¨bernommen wurde, auf folgenden Erwa¨gungen
30
:
Um eine Betriebsfortfu¨hrung im Ero¨ffnungsverfahren und
damit die Grundvoraussetzung fu¨r eine Sanierung u¨berhaupt erst
zu ermo¨glichen, sei (bereits in der Ursprungsfassung der InsO)
mit § 55 Abs. 2 eine Regelung geschaffen worden, die dem
Schutz von Personen zu dienen bestimmt sei, die Gescha¨fte mit
einem vorla¨ufigen Insolvenzverwalter abschließen oder ihm ge-
genu¨ber ein Dauerschuldverha¨ltnis erfu¨llen, das sie mit dem
Schuldner vereinbart hatten. Gerade in der kritischen Phase des
Ero¨ffnungsverfahrens sei es besonders geboten, das Vertrauen
der Gescha¨ftspartner zu gewinnen, deren Mitwirkung fu¨r eine
Betriebsfortfu¨hrung unerla¨sslich sei. Sei bei einem „normalen“
Ero¨ffnungsverfahren das Vertrauen ha¨ufig an die Person des vor-
la¨ufigen Insolvenzverwalters geknu¨pft, so sei „bei einem eigen-
23 RegE-ESUG, BT-Drucks. 17/5712 vom 4. 5. 2011.
24 Vgl.
/ [letzter Abruf:
29. 5. 2013].
25 Konsequenz des oben unter II. Ausgefu¨hrten.
26 Dazu bereits fru¨her
Marotzke
, in: FS Kirchhof, 2003, S. 321, 332 (Fn. 39),
349.
27 Vgl. die Diskussionsbeitra¨ge von
Spliedt
,
Wimmer-Amend
,
von Bismark
,
Land-
fermann
,
Graf-Schlicker
und
Beissenhirtz
– hier erwa¨hnt in der Reihenfolge des
Diskussionsberichts (im Internet unter
/
Veranstaltungen/Trilog/iir-Trilog_3_Diskussionsbericht.pdf [letzter Abruf:
29. 5. 2013]).
28 Letztlich geht es um die hochbrisante Frage, ob ein Rechtsanwalt, der in
zahlreichen Verfahren als Insolvenzverwalter ta¨tig ist und in diesen Verfah-
ren ganz selbstversta¨ndlich nach Maßgabe der §§ 60, 61 InsO fu¨r die Erfu¨ll-
barkeit der von ihm begru¨ndeten Masseverbindlichkeiten perso¨nlich haftet,
einer solchen insolvenzrechtlichen Haftung nicht auch in solchen Verfahren
unterliegen sollte, die er als kurz vor oder nach Stellung des Ero¨ffnungs-
antrags eingewechselter organschaftlicher Vertreter der insolventen Gesell-
schaft in deren eigenverwaltetem Insolvenzverfahren begru¨ndet. Angespro-
chen ist damit die schwierige Frage der angemessenen haftungsrechtlichen
Bewa¨ltigung eines Pha¨nomens, das vom
AG Duisburg
in seinem Ero¨ffnungs-
beschluss u¨ber das Vermo¨gen der
Babcock Borsig AG
treffend als „Fremdver-
waltung im Kostu¨m der Eigenverwaltung“ bezeichnet wurde (
AG Duisburg
,
Ero¨ffnungsbeschluss vom 1. 9. 2002 – 62 IN 167/02, DZWIR 2002 S. 522
(525 re. Sp.) = NZI 2002 S. 556 (559 li. Sp.) = ZIP 2002 S. 1636 (1639 re.
Sp.) = ZInsO 2002 S. 1046 (1047 re. Sp.); vgl. auch
Marotzke
, a.a.O.
(Fn. 26), S. 321, 330 f. sowie erga¨nzend in ZInsO 2004 S. 113 (115 f.). Nach
der Methode „Fremdverwaltung im Kostu¨m der Eigenverwaltung“ wurden
spa¨ter auch einige andere prominente Unternehmensinsolvenzen abge-
wickelt (z. B. die Insolvenz der
KirchMedia GmbH Co. KGaA
.).
29 Vgl. aber die sehr verdienstvolle literarische Aufbereitung durch
Flo¨ther
, in:
Ku¨bler (Hrsg.), Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz – Eigenverwal-
tung und Insolvenzplan, § 17 Rdn. 1 ff., 18 ff. (S. 422 ff., 427 ff.). Wesent-
lich zuru¨ckhaltender
Hoffmann
, ebd., § 6 Rdn. 189 ff. (S. 191 f.);
Poertzgen
,
NZI 2013 S. 369 (374 f.).
30 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, in: BT-
Drucks. 17/7511 vom 26. 10. 2011, S. 37 (li. Sp.).
Kursivsetzungen
und (in
Klammern gesetzte) erla¨uternde Einschu¨be finden sich nicht im Original,
sondern stammen vom Verf.
DER BETRIEB | Nr. 23 | 7. 6. 2013
Wirtschaftsrecht
1285