Peter Stein, Richter am ArbG, Hamburg
Pacta sunt servanda? – Der Wert tariflicher
Unku¨ndbarkeitsregelungen
– Zugleich Besprechung des BAG-Urteils vom 22. 11. 2012 – 2 AZR 673/11
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–
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DB0594269
I. Einleitung
Die Vorstellung eines zweiten, u¨berflu¨ssigen Heizers schreckt alle.
Unternehmen mu¨ssen sich entwickeln ko¨nnen. Wettbewerbs-
fa¨higkeit ist ohne Vera¨nderung nicht vorstellbar. Die Rechtsord-
nung kanalisiert und begrenzt betriebswirtschaftliche Dynamik.
La¨ngst nicht alles, was unternehmerisch sinnvoll erscheint, ist
rechtlich erlaubt. Fu¨r den Gesetzgeber und im Arbeitsrecht spe-
ziell auch fu¨r die Rechtsprechung sind Augenmaß verlangt. Das
Allheilmittel liegt selten in einer Verabsolutierung unternehme-
rischer Interessen einerseits oder einer starren Betonung des
Arbeitnehmerschutzes andererseits. Es geht um Systemgerech-
tigkeit, methodisch saubere Lo¨sungen und fairen Interessenaus-
gleich. Dabei geho¨rt es zu den vornehmsten Aufgaben der Judi-
kative, sich nicht dem Zeitgeist zu ergeben, sondern die Orien-
tierung am Recht beizubehalten. Gleichwohl hat jede Zeit Pra¨-
gungen, die auch in der Rechtsprechung Spuren hinterlassen.
Spannend sind die Phasen des Umbruchs. Ha¨ufig sind nicht
Juristen und Gerichte diejenigen, die sich als Erste neuen Anfor-
derungen stellen.
II. Regulierung der Ma¨rkte
Gegen die bisweilen maßlose Gier asozialer Eliten regt sich Wi-
derstand. Der neoliberale Mainstream, der einem Marktradika-
lismus huldigte, egal wie gesellschaftsscha¨dlich er war, ist nicht
mehr en vogue. Die Theorie der freien, gerichtlich nicht u¨ber-
pru¨fbaren Unternehmerentscheidung passte gut zu dieser markt-
radikalen Ideologie. Mittlerweise ist die Vorstellung, der Markt
werde alles richten, diskreditiert. Ganz Europa diskutiert u¨ber
Re-Regulierung.
III. Freie Unternehmerentscheidung
Das BAG geht in st. Rspr. davon aus, dass Unternehmerent-
scheidungen nicht justiziabel sind. Die Gerichte sind nicht be-
fugt, Notwendigkeit oder Zweckma¨ßigkeit einer unternehmeri-
schen Entscheidung zu u¨berpru¨fen. Die Vermutung, dass die
Unternehmerentscheidung aus sachlichen Gru¨nden erfolgt ist
2
,
entfa¨llt nur, wenn sie offenbar unsachlich, unvernu¨nftig oder
willku¨rlich war
3
. Eine Interessenabwa¨gung hat grundsa¨tzlich
nicht stattzufinden
4
. Damit stellt sich die Frage nach den Gren-
zen und der Reichweite der unternehmerischen Entscheidungs-
freiheit. Was passiert, wenn freie Unternehmerentscheidung und
Rechtsnorm miteinander kollidieren? Was hat Vorrang, wenn ein
Arbeitgeber handfeste betriebswirtschaftliche Gru¨nde fu¨r einen
Personalabbau hat, Ku¨ndigungen aber ausgeschlossen sind?
IV. Ausschluss der ordentlichen Ku¨ndigung
Es ist anerkannt, dass die ordentliche Ku¨ndigung ausgeschlossen
werden kann
5
. In der tarifvertraglichen Praxis spielen solche Re-
gelungen eine große Rolle. Allerdings macht es in bestimmten
Fa¨llen beim besten Willen keinen Sinn, am Arbeitsverha¨ltnis
festzuhalten. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer durch
Tarifvertrag besonders geschu¨tzt ist. Hat eine Naturkatastrophe
den Betrieb zersto¨rt oder kann der Arbeitnehmer wegen einer
Erkrankung endgu¨ltig nicht mehr arbeiten, muss das Vertrags-
verha¨ltnis gelo¨st werden ko¨nnen. Ist dann eine außerordentliche
Ku¨ndigung zula¨ssig? Wa¨re eine außerordentliche Ku¨ndigung
mit sozialer Auslauffrist vernu¨nftig?
1. Stattdessen: außerordentliche Ku¨ndigung
Ist der Arbeitnehmer auf einzel- oder kollektivvertraglicher
Grundlage ordentlich unku¨ndbar, soll bei einer gleichwohl not-
wendigen Trennung im Rahmen der Interessenabwa¨gung nicht
auf die fiktive Frist fu¨r die ordentliche Ku¨ndigung, sondern auf
die ku¨nftige Vertragsbindung abgestellt werden
6
. In Folge des-
sen kann es fu¨r den wichtigen Grund einer dann in Betracht zu
ziehenden außerordentlichen Ku¨ndigung ausreichen, wenn dem
Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverha¨ltnisses nur noch
fu¨r einen Zeitraum zumutbar ist, der ku¨rzer als die verbleibende
Vertragsbindungsdauer ist
7
. Einem tariflich ordentlich unku¨nd-
baren Arbeitnehmer kann fristlos nur dann geku¨ndigt werden,
wenn dem Arbeitgeber die Weiterbescha¨ftigung nicht einmal bis
zum Ablauf der fiktiven Frist zur ordentlichen Beendigung des
Arbeitsverha¨ltnisses zumutbar ist
8
. Dies gilt nicht nur fu¨r be-
triebsbedingte, sondern auch fu¨r personen-
9
und verhaltens-
bedingte
10
Ku¨ndigungen. Dabei betont das BAG, dass bei einem
tarifvertraglichen Ausschluss der ordentlichen Ku¨ndigung ein
besonders strenger Maßstab an die Beurteilung des wichtigen
Grundes anzulegen ist
11
. Ist die ordentliche Ku¨ndigung einzel-
vertraglich ausgeschlossen, sind im Vergleich zur tarifvertraglich
begru¨ndeten ordentlichen Unku¨ndbarkeit erho¨hte Anforderun-
gen an den wichtigen Grund zu stellen
12
.
Peter Stein
ist seit 1982 Richter am Arbeitsgericht Hamburg und
Lehrbeauftragter an der Universita¨t Hamburg.
1 BAG vom 22. 11. 2012 – 2 AZR 673/11, DB 2013 S. 1301 (in diesem Heft).
2 BAG vom 13. 3. 2008 – 2 AZR 1037/06, DB 2008 S. 1575 = AP KSchG 1969
§ 1 Betriebsbedingte Ku¨ndigung Nr. 176.
3 BAG vom 19. 7. 2012 – 2 AZR 386/11, DB 2013 S. 523 = NZA 2013 S. 333.
4 Kritisch
N. Colneric
, in: Betriebsbedingte Ku¨ndigungen im Widerstreit, 1998:
Richterliche Kontrolle von Ku¨ndigungen aus unternehmensbezogenen Gru¨n-
den – ein deutsch-franzo¨sischer Rechtsvergleich mit Konsequenzen;
P. Stein
,
BB 2000 S. 457;
R. Boeddinghaus
, AuR 2001 S. 8;
J. Ku¨hling
, AuR 2003
S. 92;
P. Stein
, AuR 2003 S. 99;
H. Wolter
, AuR 2008 S. 325;
W. Da¨ubler
, in:
Die Unternehmerfreiheit im Arbeitsrecht – eine unantastbare Gro¨ße?, 2012;
W. Da¨ubler
, DB 2012 S. 2100;
W. Da¨ubler
, AuR 2013 S. 9; HaKo/
Schubert
, § 1
KSchG Rdn. 421 ff.
5 BAG vom 25. 3. 2004 – 2 AZR 399/03, DB 2004 S. 2537 = AP BGB § 138
Nr. 60.
6 BAG vom 14. 11. 1984 – 7 AZR 474/83, AP BGB § 626 Nr. 83.
7 BAG vom 13. 4. 2000 – 2 AZR 259/99, DB 2000 S. 1819 = AP BGB § 626
Nr. 162.
8 BAG vom 27. 4. 2006 – 2 AZR 386/05, DB 2006 S. 1849 = AP BGB § 626
Nr. 202.
9 BAG vom 25. 3. 2004 – 2 AZR 399/03, DB 2004 S. 2537 = AP Nr. 5 zu § 54
BMT-G.
10 ErfK-
Oetker
, § 626 BGB Rdn. 52.
11 BAG vom 30. 9. 2004 – 8 AZR 462/03, DB 2005 S. 56 = AP BGB § 613a
Nr. 275.
12 BAG vom 25. 3. 2004 – 2 AZR 153/03, DB0071482 = AP BGB § 138 Nr. 60.
DER BETRIEB | Nr. 23 | 7. 6. 2013
Arbeitsrecht
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